Die Weltraum-Mediziner James White Orbit Hospital #1 Das Projekt ist gigantisch: ein Krankenhaus im All, das dafür vorgesehen und dazu eingerichtet ist, selbst den bizarrsten Lebensformen der Galaxis im Krankheitsfall oder bei Unfällen zu helfen. Ebenso ungewöhnlich wie die Patienten sind auch die Ärzte und das Pflegepersonal des Krankenhauses. Dennoch sind nicht immer die geeigneten Spezialisten vorhanden, häufig weiß man nur wenig über Metabolismus, Verhaltensweise oder Krankheit eines neuen Patienten. Dann beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, um die richtige Diagnose zu stellen und die Heilbehandlung einzuleiten. Nicht selten geschieht das erst in letzter Sekunde, am Rand der Katastrophe… James White Die Weltraum-Mediziner Ullstein Buch Nr. 3331 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M — Berlin — Wien Titel der Originalausgabe: Hospital Station Aus dem Amerikanischen von Heinz Nagel Umschlagillustration: Kelley Freas Umschlaggraphik: Ingrid Roehling 1952 by James White Printed in Germany 1977 White, James Die Weltraum-Mediziner: Science- Fiction-Roman / hrsg. von Walter Spiegl. — Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1977. Science-Fiction-Roman Herausgegeben von Walter Spiegl 1 Der Fremde in O’Maras Schlafkabine wog etwa eine halbe Tonne, besaß sechs dicke, kurze Gliedmaßen, die ebenso als Arme wie als Beine dienten, und hatte eine Haut wie biegsamer Panzerstahl. Da der Fremde von Hudlar, einer Vier-G-Welt mit einem atmosphärischen Druck von beinahe siebenfach Erdnorm, kam, war ein so massiver Körperbau zu erwarten. Aber trotz seiner ungeheuren Stärke war das Wesen hilflos. O’Mara wußte das, denn es war kaum sechs Monate alt und hatte gerade miterlebt, wie seine Eltern bei einem Bauunfall ums Leben kamen. Sein Gehirn war ausreichend gut entwickelt, um von diesem Anblick einen Schock davonzutragen. „Ich h-h-h- ich habe den Kleinen gebracht“, sagte Waring, einer der Zugstrahl-Techniker des Abschnitts. Er haßte O’Mara und hatte auch guten Grund dazu, bemühte sich aber, seine Schadenfreude nicht zu zeigen. „C-c-caxton schickt mich. Er sagt, Sie können wegen Ihres Beins keinen normalen Dienst tun und sollen sich deshalb um das Junge kümmern, bis jemand von seinem Heimatplaneten kommt. Caxton kommt gleich herüber…“ Waring verstummte. Er überprüfte die Verschlüsse seines Raumanzugs und hatte es sichtlich eilig, hinauszukommen, ehe O’Mara den Unfall erwähnen konnte. „Ich habe etwas von seinem Essen mitgebracht“, schloß er schnell. „Es ist in der Luftschleuse.“ O’Mara nickte stumm. Er war ein junger Mann mit einem Körperbau, der ihn befähigte, aus jedem Raufhandel als Sieger hervorzugehen. Und es hatte bereits eine ganze Menge solcher Prügeleien gegeben. Dazu hatte er ein Gesicht, das grob und kantig geschnitten war und zu seinem Körper paßte. Wenn er jetzt zeigte, wie nahe ihm dieser Unfall gegangen war, würde Waring glauben, daß er das alles nur spielte. Dies wußte er genau. Männern, die so aussahen wie er — das hatte O’Mara schon frühzeitig entdeckt — glaubte niemand, daß sie auch tiefergehender Empfindungen fähig waren. Als Waring ihn verlassen hatte, ging er in die Luftschleuse, um die „Spritzpistole“ zu holen, mit denen Hudlarer außerhalb ihres Heimatplaneten gefüttert wurden. Während er den Apparat und seine Reservetanks überprüfte, versuchte er, sich die Geschichte zurechtzulegen, die er Caxton erzählen mußte, wenn der Abschnittsleiter bei ihm eintraf. Er starrte in Gedanken versunken durch das Fenster der Luftschleuse auf die einzelnen Bruchstücke des gigantischen Puzzlespiels, die draußen über fünfzig Kubikmeilen Weltraums verteilt waren. O’Mara versuchte nachzudenken. Aber sein Geist wich immer wieder den Einzelheiten des Unfalls aus und wandte sich Ereignissen zu, die in der fernen Vergangenheit oder der Zukunft lagen. Das riesige Gebilde, das langsam im galaktischen Sektor zwölf, auf halbem Wege zwischen der Mutter-Galaxis und den dicht bevölkerten Systemen der größeren magellanischen Wolke, Gestalt annahm, sollte ein Hospital werden — ein Hospital, wie es noch nie eines gegeben hatte. Hunderte von verschiedenen Umgebungen würden sich hier genau reproduzieren lassen, jedes Extrem an Hitze, Kälte, Druck, Schwerkraft, Strahlung oder Atmosphäre, das für einen Patienten oder seine Pfleger gebraucht wurde. Ein solch ungeheures und kompliziertes Gebilde überstieg natürlich die Mittel eines einzelnen Planeten, und so hatten Hunderte von Welten einzelne Abschnitte fertiggestellt und sie an die Montagestelle transportiert. Aber es war nicht leicht, die einzelnen Teile zusammenzufügen. Natürlich besaß jede der betroffenen Welten eine Kopie des Hauptplans. Aber trotzdem kamen Irrtümer vor — wahrscheinlich, weil der Plan in so viele verschiedene Sprachen und Maßsysteme übersetzt werden mußte. Abschnitte, die eigentlich hätten glatt zusammenpassen sollen, mußten oft modifiziert werden, und das erforderte, daß die Abschnitte mehrere Male mit massierten Zug- und Druckstrahlen zusammengeschoben und wieder auseinandergezogen wurden. Das war für die Bedienungsmannschaften eine äußerst heikle Arbeit, denn wenn auch das Gewicht der einzelnen Abschnitte im Weltraum gleich Null war, so blieben doch ihre Masse und ihre Trägheit ungeheuer groß. Und wenn jemand das Pech hatte, zwischen die sich ineinanderschiebenden Ansatzstücke zweier Abschnitte zu geraten, so wurde aus ihm — ganz gleich, wie widerstandsfähig seine Rasse auch gewöhnlich sein mochte — die beinahe perfekte Wiedergabe eines zweidimensionalen Körpers. Die Wesen, die gestorben waren, gehörten einer widerstandsfähigen Rasse an, genau genommen der physiologischen Klasse FROB. Erwachsene Hudlarer wogen etwa zwei Tonnen nach Erdnorm, besaßen eine unglaublich harte, aber flexible Oberhaut, die sie nicht nur vor dem ungeheuren Druck ihrer Heimatwelt beschützte, sondern ihnen auch gestattete, in jeder beliebigen Atmosphäre geringeren Luftdrucks bis hinab zum absoluten Vakuum des Weltraums ungehindert zu arbeiten. Außerdem besaßen sie den höchsten bisher bekannten Strahlungstoleranzpegel — und das machte sie zu unschätzbaren Arbeitskräften für die Energiemeilermontage. Der Verlust von zwei so wertvollen Mitarbeitern seines Abschnittes hätte Caxton natürlich auch unabhängig von anderen Überlegungen wütend gemacht. O’Mara seufzte, fluchte, hob das Fütterungsgerät auf und ging in seine Kabine zurück. Normalerweise nahmen Hudlarer die Nahrung direkt durch die Haut aus der dicken, suppenartigen Atmosphäre ihres Planeten auf, aber auf anderen Welten oder im Weltraum mußte in gewissen Zeitabständen eine konzentrierte Nährflüssigkeit auf ihre Haut gesprüht werden. Der junge Extraterrestrier — oder ET, wie man sie auf der Station kurz zu nennen pflegte — zeigte große freie Flecken, und an anderen Stellen war die letzte Nahrungsschicht schon sehr dünn geworden. Das Baby mußte also gefüttert werden, entschied O’Mara. Er schob sich, soweit es das Sicherheitsbestreben zuließ, dicht an den Fremden heran und begann, ihn sorgfältig zu besprühen. Der Vorgang des Mit-Nahrung-besprüht-Werdens schien dem jungen FROB sichtbar angenehm. Er kam aus seiner Ecke hervor und begann aufgeregt in der kleinen Kabine herumzutollen. Für O’Mara erleichterte das seine Aufgabe keineswegs, denn er mußte jetzt einen sich bewegenden Gegenstand treffen und gleichzeitig selbst dauernd Ausweichmanöver versuchen, was seinem verletzten Bein nicht gerade zuträglich war. Als Caxton eintraf, war praktisch die ganze Oberfläche seiner Schlafkabine mit dem klebrigen, scharf riechenden Nahrungskonzentrat bedeckt — ebenso aber auch das Äußere des jetzt wieder friedlichen jungen Fremden. „Was geht hier vor?“ fragte der Abschnittsleiter. Raummonteure waren, allgemein betrachtet, einfache, unkomplizierte Persönlichkeiten, deren Reaktionen leicht vorherzusagen waren. Caxton war ein Mensch, der immer fragte: „Was geht hier vor?“ Selbst wenn er es, wie jetzt, wußte — und besonders dann, wenn solche unnötigen Fragen nur dazu dienten, einen Mitarbeiter oder Untergebenen zu ärgern. Unter den richtigen Umständen war der Abschnittsleiter wahrscheinlich ein ganz angenehmer Mensch, dachte O’Mara, aber zwischen ihm und Caxton waren diese Umstände bis jetzt noch nicht eingetreten. O’Mara beantwortete die Frage, ohne seine Wut zu zeigen, und schloß: „… Von jetzt an, denke ich, werde ich den Kleinen draußen lassen und ihn dort füttern…“ „Das werden Sie nicht!“ herrschte Caxton ihn an. „Sie lassen ihn hier bei sich, und zwar die ganze Zeit. Aber darüber sprechen wir später. Im Augenblick interessiert mich der Unfall. Ihre Ansicht darüber.“ Sein Gesichtsausdruck verriet, daß er zwar bereit war, sich O’Maras Bericht anzuhören, aber schon jetzt jedes Wort bezweifelte, das O’Mara jemals sagen würde. „Ehe Sie fortfahren“, unterbrach ihn Caxton, nachdem O’Mara zwei Sätze gesprochen hatte. „… Sie wissen doch, daß dieses ganze Projekt unter der Aufsicht des Monitor-Korps steht. Gewöhnlich läßt uns das Korps unsere Schwierigkeiten nach unserem Geschmack regeln, aber in diesem Fall sind Extraterrestrier betroffen, und deshalb muß das Korps eingeschaltet werden. Es wird also zu einer Untersuchung kommen.“ Er deutete auf das schmale Futteral, das ihm auf der Brust hing. „Ich muß Sie wohl auch darauf hinweisen, daß ich Ihre Aussage auf Band aufnehme.“ O’Mara nickte und berichtete mit monotoner Stimme. Es war eine sehr schwache Geschichte, das wußte er, und wenn er versuchte, irgendeine Einzelheit hervorzuheben, die zu seinen Gunsten sprach, so würde das den ganzen Bericht nur noch künstlicher erscheinen lassen. Caxton setzte ein paar Mal zum Sprechen an, verzichtete aber jedesmal darauf, O’Mara zu unterbrechen, schließlich meinte er: „Aber hat irgend jemand gesehen, wie Sie das taten? Oder gar diese beiden ETs in der Gefahrenzone gesehen, während die Warnlichter brannten? Sie haben da eine hübsche kleine Geschichte, um diesen Irrsinn Ihrerseits zu erklären — und wenn diese Geschichte stimmt, macht Sie das zu einem Helden — aber es könnte ebensogut sein, daß Sie die Lichter nach dem Unfall eingeschaltet haben und es also in Wirklichkeit Ihrer Nachlässigkeit zuzuschreiben ist, daß der Unfall überhaupt passierte. Alles, was Sie da von dem Kleinen sagen, könnte gelogen sein —“ „Waring hat mich gesehen“, unterbrach ihn O’Mara. Caxton musterte ihn, und sein Gesichtsausdruck wechselte von unterdrücktem Ärger in angewiderte Verachtung über. O’Mara spürte, wie sein Gesicht sich rötete. „Waring, eh?“ fragte der Abschnittsleiter leise. „Gut gemacht, das muß man Ihnen lassen. Sie wissen, und wir alle wissen, daß Sie dauernd auf Waring herumgehackt haben und ihn dauernd wegen seiner Ungeschicklichkeit verspotteten. Der Mann muß Sie hassen. Selbst wenn er Sie gesehen hat, müßte das Gericht erwarten, daß er es nicht aussagen würde. Und wenn er Sie nicht gesehen hat, würde das Gericht glauben, er hätte Sie gesehen und verschweige es. O’Mara, Sie ekeln mich an.“ Caxton machte auf dem Absatz kehrt und stampfte auf die Luftschleuse zu. Dann blieb er noch einmal stehen und wandte sich um. „Sie sind nichts anderes als ein Unruhestifter, O’Mara“, sagte er wütend, „ein streitsüchtiger Muskelprotz mit gerade soviel Verstand, daß man Sie hier gebrauchen kann. Wahrscheinlich bilden Sie sich ein, Sie haben diese Einzelkabine als Auszeichnung erhalten. Das ist aber nicht der Fall. Sie sind nicht schlecht, aber so gut auch wieder nicht! Die Wahrheit ist einfach, daß niemand in meinem ganzen Abschnitt mit Ihnen zusammen hausen möchte…“ Der Abschnittsleiter drückte den Schalter seines Bandgerätes. Jetzt klang seine Stimme kalt und drohend. „… und, O’Mara, wenn durch Ihr Verschulden diesem Kleinen hier etwas zustößt, wenn ihm irgend etwas zustößt, dann garantiere ich Ihnen, daß Sie die Gerichtsverhandlung durch das Monitor-Korps nicht mehr erleben.“ Als er vor sechs Monaten die Arbeit beim Projekt aufgenommen hatte, mußte O’Mara feststellen, daß er wieder einmal einen Job übernommen hatte, der zwar an sich wichtig war, ihm jedoch keinerlei Befriedigung verschaffte und dessen Anforderung weit unterhalb seiner Fähigkeiten lagen. Sein Leben war seit dem Abschluß der Schule eine Serie solcher Enttäuschungen gewesen. Kein Personalleiter konnte glauben, daß ein junger Mann mit einem so eckigen, häßlichen Gesicht und so breiten Schultern, daß sein Kopf im Vergleich lächerlich klein wirkte, sich für subtile Fächer wie Psychologie oder Elektronik interessieren konnte. So war er schließlich in den Weltraum gegangen, in der Hoffnung, dort andere Verhältnisse vorzufinden. Aber nein. Trotz seinen Bemühungen, mit seinem beträchtlichen Wissen Eindruck zu machen, waren die Leute, auf die es ankam, stets viel zu sehr von seiner Muskelkraft beeindruckt, um überhaupt zuzuhören, und so erhielten seine Bewerbungen stets und unabänderlich den Stempelaufdruck „geeignet für schwere körperliche Arbeit“. Als er die Tätigkeit in diesem Projekt aufnahm, hatte er beschlossen, das Beste aus seinem an sich langweiligen und enttäuschenden Job zu machen — nämlich einfach unpopulär zu werden. Demzufolge war sein Leben alles andere als langweilig geworden. Aber jetzt wünschte er sich, er hätte sich nicht so bemüht, unbeliebt zu werden. Was er im Augenblick am meisten brauchte, waren Freunde — und er besaß keinen einzigen. Der scharfe, durchdringende Geruch des hudlarischen Nahrungsextrakts riß seine Gedanken aus der unerfreulichen Vergangenheit in die noch unerfreulichere Gegenwart. Er würde etwas unternehmen müssen, und zwar schnell. Er stieg in seinen Anzug und ging durch die Schleuse. 2 Sein Quartier befand sich in einer winzigen Untergruppe, die eines Tages den Operationssaal, die chirurgische Station und die anschließenden Lagerräume der MSVK-Abteilung des Hospitals bilden sollte. Zwei kleine Räume mit einem Verbindungskorridor waren für O’Mara unter Druck und Schwerkraft gesetzt worden, während der Rest des Gebäudes luft- und gewichtslos blieb. Er schwebte durch kurze, halbfertige Korridore, die in den freien Raum endeten, und blickte in die kahlen, eckigen Kammern, die an ihm vorbeiglitten. Alle steckten voll von Rohren, Trägern und halbfertigen Maschinen, deren Verwendungszweck man unmöglich ahnen konnte. Aber alle Kammern, die er untersuchte, waren entweder zu klein, um den Fremden aufzunehmen, oder waren in einer Richtung zum Weltraum hin offen. O’Mara fluchte halblaut, stieß sich von der Wand ab und erreichte mit einem eleganten Hechtsprung die Grenzen seiner eigenen winzigen Domäne, wo er sich umsah. Über, unter und zu allen Seiten um ihn in einer Entfernung von zehn Meilen schwebten Teile des Hospitals, eigentlich unsichtbar, wären nicht die hellen blauen Lichter gewesen, die den Schiffsverkehr in der Umgebung vor ihnen warnten. Es war so, als befände man sich inmitten einer dichten kugelförmigen Sternwolke, dachte O’Mara. Eigentlich ein wunderbarer Anblick, wenn man in der Stimmung war, sich dieser Schönheit hinzugeben. Aber O’Mara war nicht in der Stimmung, denn überall hielten Druckstrahlmänner Wache und hatten den Auftrag, dafür zu sorgen, daß es keine Kollisionen gab. Und diese Männer würden zweifellos sofort Caxton Meldung erstatten, wenn O’Mara seinen Schützling auch nur zum Füttern in den Weltraum setzte — obwohl jedermann wußte, daß für einen Hudlarer ein kurzer Spaziergang im Weltraum ebenso ungefährlich war wie für einen Hund auf der Erde der Gang zum nächsten Laternenpfahl. Blieb für ihn also als einziger Ausweg, sich die Nase zu verstopfen, dachte er angewidert. In der Schleuse empfing ihn ein Lärm, der an das Tuten eines Nebelhorns erinnerte. Dieses Tuten erfolgte in unregelmäßigen Abständen, und zwar so unregelmäßig, daß O’Mara jedesmal voll Spannung auf das nächste Tuten wartete. Durch die letzte Nahrungsschicht konnte man freie Hautstellen sehen. Sein kleiner Liebling war also offensichtlich wieder hungrig. O’Mara holte die Spritzpistole. Als er etwa drei Quadratmeter besprüht hatte, gab es eine Unterbrechung. Dr. Pelling kam. Der Arzt nahm nur Helm und Handschuhe ab, rieb sich die steif gewordenen Finger und knurrte: „Ich höre, Sie haben sich am Bein verletzt. Lassen Sie sehen.“ Pelling hätte bei der Untersuchung von O’Maras verletztem Bein nicht zarter sein können, aber man merkte ihm trotzdem an, daß er sich lediglich einer Pflicht entledigte. Seine Stimme klang reserviert, als er sagte: „Schwere Prellung und ein paar Sehnenrisse — Sie haben Glück gehabt. Ruhe. Ich gebe Ihnen eine Salbe zum Einreiben. Hatten Sie die Maler hier?“ „Was…?“ fing O’Mara an und sah dann, wohin der Arzt blickte. „Das ist Nahrungskonzentrat. Dieser kleine Teufelskerl hielt sich nicht ruhig, während ich ihn besprühte. Aber weil wir gerade von dem Kleinen reden, können Sie mir sagen…“ „Nein, das kann ich nicht“, unterbrach ihn Pelling. „Mein Gehirn ist mit den Wehwehchen und Arzneien meiner eigenen Spezies vollgepfropft. Außerdem sind die Burschen doch zäh — denen kann ja gar nichts passieren!“ Er schnüffelte und schnitt eine Grimasse. „Warum halten Sie ihn denn nicht draußen?“ „Weil es Leute gibt, die ein weiches Herz haben“, antwortete O’Mara etwas bitter. „Die halten es für grausam, zum Beispiel ein Kätzchen am Fell hochzuheben…“ „Hmmh“, machte der Arzt und sah O’Mara beinahe mitfühlend an. „Nun, das ist Ihr Problem. Kommen Sie in ein paar Wochen zu mir.“ „Warten Sie!“ rief O’Mara und humpelte hinter Pelling her. „Und was ist, wenn etwas passiert? Es muß doch irgendwelche Regeln für die Pflege dieser Dinger geben, ganz einfache Regeln. Sie können mich doch nicht hierlassen und…“ „Ich verstehe schon“, sagte Pelling. Er sah O’Mara an und fuhr dann fort, „ich habe irgendwo ein Buch herumliegen, eine Art Handbuch für Erste Hilfe für Hudlarer. Aber es ist in Universal…“ „Ich kann Universal lesen“, sagte O’Mara. Pelling sah ihn überrascht an. „Kluger Junge. Gut, ich schicke es Ihnen.“ Er nickte O’Mara zu und verließ ihn. O’Mara schloß die Tür seiner Schlafkabine, in der Hoffnung, so den Geruch loszuwerden. Dann ließ er sich auf seine Couch nieder. Er war der Meinung, Ruhe verdient zu haben. Er legte sein verletztes Bein so, daß der Schmerz beinahe erträglich wurde, und versuchte, sich Mut zuzusprechen. Aber mehr als ein stoisches „Sich-mit-der-Situation-Abfinden“ kam dabei nicht heraus. Er war so müde, daß ihm selbst die Mühe, sich zu ärgern, zu groß wurde. Seine Augenlider senkten sich, und dann umfing ihn wohltuende Wärme. O’Mara seufzte, legte den Kopf zur Seite und schickte sich an, zu schlafen. Das Geräusch, das ihn von der Couch in die Höhe trieb, erweckte in ihm den Gedanken an die Posaunen von Jericho, und er hatte Angst, die Tür würde im nächsten Augenblick zusammenbrechen. O’Mara tastete instinktiv nach seinem Raumanzug, ließ ihn fluchend fallen, als er begriff, was vorging, und holte die Spritzpistole. Junior war wieder hungrig! Während der achtzehn Stunden, die dieser Episode folgten, begriff O’Mara, wie wenig er von hudlarischen Säuglingen wußte. Er hatte über den Translator oft mit den Eltern gesprochen, und das Baby war immer erwähnt worden, aber irgendwie hatte man versäumt, von den wichtigen Dingen zu sprechen. Dem Schlaf zum Beispiel. Nach all seinen Beobachtungen und Erfahrungen schliefen FROBs im Säuglingsalter überhaupt nicht. In den viel zu kurzen Intervallen zwischen der Nahrungsaufnahme tobten sie vielmehr im Schlafzimmer herum und zertrümmerten jegliches Mobiliar, das nicht aus Metall bestand und festgeschraubt war — bei solchen Gegenständen begnügten sie sich damit, sie bis zur Unkenntlichkeit zu verbiegen —, oder sie kauerten sich in eine Ecke und beschäftigten sich damit, ihre Tentakel in unentwirrbare Knäuel zu schlingen. Wahrscheinlich würde der Anblick eines Babys, das die äquivalente Handlung zum Spielen mit den Fingern vollbrachte, einen erwachsenen Hudlarer geradezu in Ekstase versetzt haben, aber O’Mara ging das ganz einfach auf die Nerven. Und alle zwei Stunden — plus oder minus ein paar Minuten — mußte er das Biest füttern. Wenn er Glück hatte, blieb der liebe Kleine dabei ruhig liegen, aber viel öfter mußte O’Mara ihn mit seiner Spritzpistole verfolgen. Normalerweise waren FROBs dieses Alters viel zu schwach, um großes Unheil zu stiften — aber das galt natürlich nur für das Schwerefeld von Hudlar. Hier, unter Umweltbedingungen, die einem Viertel G entsprachen, konnte sich der Säugling bewegen. Und das machte ihm sichtlich Spaß. O’Mara dagegen hatte weniger Spaß; er fühlte sich müde und ausgepumpt, und nach jeder Fütterung sank er auf seine Couch und versuchte zu schlafen. Er war so völlig erschöpft, daß er nach jeder Fütterungsprozedur fest davon überzeugt war, das Biest bei seinem nächsten Schrei nicht mehr zu hören — aber jedesmal wieder riß ihn dieses schrille Nebelhorn aus seinem Schlummer, daß er wie ein Betrunkener hochfuhr und im Halbschlaf jene Prozedur durchführte, die diesem grauenhaften, nervenzerreißenden Lärm ein Ende bereitete. Nach beinahe dreißig Stunden wußte O’Mara, daß er am Ende war. Ob man ihm nun den lieben Kleinen in zwei Tagen oder zwei Monaten abnahm, war, soweit es ihn betraf, gleichgültig; er würde bis dahin ein Opfer des Wahnsinns sein. Sofern er nicht in einem schwachen Augenblick einen Spaziergang in den Weltraum machte — ohne Anzug. Pelling hätte nie zugelassen, daß man ihm eine solche Strapaze aufbürdete, das wußte er, aber der gute Doktor war, was die Physiologie von FROBs anging, völlig unwissend. Und Caxton, der eine Kleinigkeit mehr wußte, war ein Mensch von jener einfachen, direkten Art, der an solchen Schmerzen Freude hatte, ganz besonders, wenn er glaubte, daß das Opfer seine Strafe verdiente. Wie aber, wenn der Abschnittsleiter doch intelligenter war als O’Mara vermutete? Wie, wenn er genau wußte, wozu er ihn verurteilte, indem er den kleinen Hudlarer seiner Obhut überließ? O’Mara fluchte, aber er hatte sich damit die letzten zehn oder zwölf Stunden so intensiv beschäftigt, daß auch Fluchen aufhörte, ihm Erleichterung zu bringen. Er schüttelte ärgerlich den Kopf, als könnte er damit die Müdigkeit von sich abschütteln. Den Gefallen würde er Caxton nicht tun. Er war der stärkste Mann beim ganzen Projekt, das wußte O’Mara, und seine Kraftreserven mußten beträchtlich sein. All diese Müdigkeit und dieses nervöse Zucken waren nichts anderes als Einbildung, redete er sich ein, und zwei Tage praktisch ohne Schlaf durften ihm überhaupt nichts anhaben — trotz des Unfalls. Und viel schlimmer konnte die Geschichte mit dem jungen ET auch nicht mehr werden — eher besser. Denen würde er es schon zeigen, gelobte er sich. Caxton sollte es nicht gelingen, ihn verrückt zu machen — ja, er würde ihm nicht einmal die Genugtuung bereiten, um Hilfe zu bitten. Nach der achtundvierzigsten Stunde, die er in Gesellschaft des kleinen FROB verbrachte, und der siebenundfünfzigsten seit dem letzten Schlaf, trat plötzlich eine Änderung im Verhalten des FROB ein. Die übliche Reihenfolge und Ordnung der Dinge war gestört. Sein kleiner Liebling brüllte nach der Nahrungsaufnahme weiter! Zuerst empfand O’Mara so etwas wie beleidigte Überraschung; das ging einfach gegen die Regeln. Sie schrien, man fütterte sie, und dann hörten sie zu schreien auf — wenigstens für eine Weile. Das Baby hier aber war so unfair, daß er zunächst schockiert und völlig hilflos war. Der Lärm war unerträglich. Lange, schrille Posaunenstöße drohten ihm die Trommelfelle zu sprengen. Manchmal veränderte sich die Lautstärke auf völlig willkürliche Art und Weise, und dann folgte wieder ein gleichmäßiges Stakkato mit kreischenden Obertönen, als wären Glassplitter in seine Stimmbänder geraten. Es gab auch Intervalle der Stille, die zwischen zwei Sekunden und einer halben Minute variierten und während deren O’Mara zitternd darauf wartete, daß das Getöse wieder von neuem begann. Er wartete, solange er es einigermaßen ertragen konnte — vielleicht zehn Minuten —, und dann stemmte er seine bleiernen Glieder wieder von der Couch hoch. „Was, zum Teufel, ist überhaupt los mit dir?“ brüllte O’Mara gegen das Getöse an. Der FROB war über und über mit Nahrungskonzentrat bedeckt, konnte also nicht hungrig sein. Jetzt, da der Kleine ihn gesehen hatte, nahm die Intensität seiner Schreie zu. Die balgartige Muskelklappe auf dem Rücken des Kleinen ein Körperteil, der nur zur Geräuscherzeugung benutzt wurde, da die FROBs nicht atmeten — schwoll schnell an und ab. O’Mara preßte sich die Hände gegen die Ohren — was ihm überhaupt nichts nützte und schrie: „Halt’s Maul!“ Er wußte, daß der kürzlich verwaiste Hudlarer immer noch Angst und Schrecken empfinden mußte, daß der bloße Prozeß der Fütterung nicht alle seine emotionalen Forderungen erfüllen konnte — O’Mara wußte all das und empfand tiefes Mitgefühl für das Wesen. Aber dieses Mitgefühl befand sich in einem ruhigen, gesunden und zivilisierten Winkel seines Gehirns — völlig abgesondert von dem Schmerz, der Müdigkeit und der Tortur, die dieses Getöse verursachte. Im Augenblick wohnten zwei Seelen in seiner Brust, und während eine davon den Grund für diesen Lärm verstand, reagierte die andere instinktiv und wütend darauf. „Halt’s Maul! Halt’s Maul!“, schrie O’Mara und schlug wie wild mit den Fäusten um sich. Erstaunlicherweise — oder war es ein Wunder — hörte der Hudlarer nach etwa zehn Minuten zu schreien auf. O’Mara kehrte zitternd auf seine Couch zurück. Während dieser zehn Minuten hatte ihn eine wilde, unkontrollierbare, ja mörderische Wut erfaßt. Er hatte wütend um sich geschlagen und gestoßen, bis die Schmerzen in seinen Händen und an seinem verletzten Bein ihn bewegungsunfähig machten, aber das hatte ihn nicht gehindert, die anderen Waffen zu benutzen, die ihm noch verblieben waren — sein gesundes Bein und seine Zunge. Nachher schämte er sich. Es nützte auch nichts, daß er wußte, daß der Hudlarer zäh war und vielleicht die Schläge nicht gespürt hatte; der Kleine hatte aufgehört zu schreien. Folglich mußte er, O’Mara, sich irgendwie verständlich gemacht haben. Zweifellos waren Hudlarer hart und zäh, aber das hier war ein Baby, und Babys hatten schwache Stellen. Menschliche Babys zum Beispiel hatten eine sehr schwache Stelle oben am Kopf! Als O’Mara erschöpft in den Schlaf sank, war sein letzter, zusammenhängender Gedanke, daß er der gemeinste Schuft war, der je das Licht der Welt erblickt hatte. Sechzehn Stunden darauf erwachte er. Es war ein langsamer, natürlicher Prozeß, der kaum ausreichte, ihn ins Bewußtsein zurückzurufen. Einen Augenblick wunderte er sich über die Tatsache, daß das Baby still war, und dann sank er erneut in den Schlummer. Das nächstemal erwachte er fünf Stunden später, als Waring durch die Luftschleuse kam. „Dr. P-Pelling hat mich gebeten, Ihnen das zu bringen“, sagte er und warf O’Mara ein dünnes Buch hin. „Und damit das klar ist — ich tue es nicht Ihnen zu Gefallen — er hat nur gesagt, es wäre gut für den Kleinen. Wie geht’s ihm denn?“ „Schläft“, knurrte O’Mara. Waring feuchtete sich die Lippen an. „Ich — ich soll nachsehen. C–C-Caxton hat es gesagt.“ „Das sieht Ca-Ca-Caxton ähnlich“, spottete O’Mara. Er musterte den anderen und sah, wie Warings Gesicht sich rötete. Waring war ein hagerer, junger Mann, nicht besonders stark und auch nicht von dem Stoff, aus dem Helden gemacht werden. Als O’Mara angekommen war, hatte man von diesem Zugstrahlmann Wunderdinge erzählt. Bei der Montage eines Energiemeilers hatte es einen Unfall gegeben, und Waring hatte in einer ungenügend isolierten Montageeinheit festgesessen. Aber er hatte die Nerven behalten und es fertiggebracht, mit Hilfe von auf dem Funkwege durchgegebenen Instruktionen eine langsame Atomexplosion abzuwenden, die wahrscheinlich sämtliche Arbeiter in seinem Abschnitt getötet hätte. Er hatte das im vollen Bewußtsein getan, daß die Strahlungsmenge an seinem Arbeitsplatz ausreichte, um ihn binnen weniger Stunden zu töten. Aber die Isolierung war wirksamer gewesen als man angenommen hatte, und Waring starb nicht. Aber der Unfall hatte seine Spuren an ihm hinterlassen, erzählte man O’Mara. Der Mann hatte Bewußtseinsstörungen, er stotterte, und sein Nervensystem war angegriffen, sagte man, und es gab noch andere Dinge, die O’Mara selbst sehen würde und auf die er besser nicht achtete. Schließlich hatte Waring ihrer aller Leben gerettet und verdiente dafür besondere Behandlung. Deshalb gingen sie ihm auch immer aus dem Weg, ließen ihn alle Prügeleien gewinnen, jedes Spiel, jede Wette und behandelten ihn aus Sentimentalität heraus wie ein rohes Ei. Und aus diesem Grunde war Waring ein verzogener, unerträglicher Patron. Als O’Mara seine zusammengepreßten Lippen und die geballten Fäuste sah, lächelte er. Er hatte Waring nie gewinnen lassen, wenn er es verhindern konnte, und als der Mann einen Streit mit ihm angezettelt hatte, war das auch der letzte gewesen. Nicht, daß O’Mara ihm wehgetan hatte. Er hatte nur demonstriert, daß es keine besonders gute Idee war, mit ihm, O’Mara, anzubinden. „Dann schauen Sie nur hinein“, sagte O’Mara schließlich. „Tun Sie, was Ca-Ca-Caxton sagt.“ Sie gingen hinein, beobachteten den schwach mit seinen Tentakeln zuckenden Säugling und kamen wieder heraus. Waring erklärte stammelnd, er müsse gehen und strebte auf die Luftschleuse zu. Er stotterte in letzter Zeit nicht mehr viel, wahrscheinlich hatte er nur Angst, daß die Sache mit dem Unfall zur Sprache kommen würde. „Einen Augenblick“, sagte O’Mara. „Mir geht das Nahrungskonzentrat aus. Würden Sie…“ „Ho-holen Sie es doch selbst!“ O’Mara starrte ihn an, bis Waring seinem Blick auswich, und sagte dann leise: „Beides auf einmal kann Caxton nicht haben. Wenn man sich so gründlich um diesen Kleinen kümmern muß, daß ich ihn nicht im Vakuum füttern oder halten darf, wäre es eine Pflichtverletzung meinerseits, ihn ein paar Stunden allein zu lassen und Nahrung zu holen. Das sehen Sie doch sicher ein. Wer weiß, was da passieren könnte. Man hat mich für das Wohlbefinden dieses Kleinen verantwortlich gemacht, und ich bestehe deshalb darauf…“ „A-a-aber es…“ „Das kostet Sie nur alle zwei, drei Tage eine Stunde Ihrer Freiwache“, sagte O’Mara scharf. „Reden Sie nur nicht lange herum, und stottern Sie nicht so. Sie sind alt genug, um richtig zu reden.“ Waring preßte die Zähne zusammen. Er atmete tief ein und sagte dann ganz langsam: „Das… kostet… mich… die… nächsten zwei Freiwachen. Das FROB-Quartier… wo Ihr Proviant lagert… wird übermorgen an die Hauptsektion angeschlossen. Die Proviantlager müssen schon vorher umgestellt werden.“ „Sehen Sie, wie leicht es ist, wenn man es nur versucht“, sagte O’Mara grinsend. „Übrigens, wenn Sie die Kanister dann vor die Schleuse hängen, seien Sie doch bitte leise, damit Baby nicht aufwacht.“ 3 Nachdem O’Mara vielleicht zwei Stunden in dem Buch geschmökert hatte, das Pelling ihm geschickt hatte, wußte er etwas mehr über die Pflege hudlarischer Babys, und dieses Wissen brachte ihm zugleich Erleichterung und Verzweiflung. Offenbar waren sein Tobsuchtsanfall und die Schläge, die er dem Baby versetzt hatte, gut gewesen — FROB-Babys wollten dauernd gehätschelt werden, und wenn man bedachte, welche Kraft ein erwachsener FROB aufwendete, um seinem Sprößling einen liebevollen Klaps zu verabreichen, so mußte O’Maras wütender Angriff wirklich nur ein sehr schwacher Klaps gewesen sein. Aber das Buch warnte auch vor den Gefahren der Überfütterung, und in dieser Hinsicht fühlte O’Mara sich schuldig. Offenbar war es üblich, Babys während ihrer Wachperiode alle fünf oder sechs Stunden zu füttern und sie im übrigen zu beruhigen — also mit Schlägen. Außerdem schien es, daß junge FROBs in ziemlich kurzen Abständen gebadet werden mußten. Auf ihrem Heimatplaneten bedeutete das eine Art Sandstrahlbehandlung, aber O’Mara vermutete, daß dies wegen der Dichte und des Drucks der Atmosphäre nötig war. Das nächste Problem, das er lösen mußte, war, wie er einen kräftigen und eindrucksvollen Klaps verabreichen sollte. Er zweifelte stark daran, ob er jedesmal einen Tobsuchtsanfall zuwege bringen würde, wenn das Baby sein Äquivalent von Mutterliebe benötigte. Aber er würde wenigstens genügend Zeit haben, sich etwas zu überlegen, denn, wie er in dem Buch gelesen hatte, pflegten junge FROBs zwei Tage wach zu sein und anschließend fünf Tage zu schlafen. Während der ersten fünf Tage Schlafperiode überlegte sich O’Mara Methoden, um seinen Schützling zu streicheln und zu baden, und er hatte sogar noch zwei Tage frei, um sich selbst zu entspannen und seine Kräfte für die zwei Tage Schwerarbeit zu sammeln, die nach dem Erwachen des hoffnungsvollen FROB vor ihm lagen. Für einen Mann von gewöhnlicher Konstitution wäre das eine Tortur gewesen, aber O’Mara stellte nach den ersten zwei Wochen dieser Routine fest, daß er sich daran gewöhnte. Nach vier Wochen war sein Bein wieder normal zu gebrauchen, und Baby machte ihm überhaupt keine Sorgen mehr. Draußen näherte sich das Projekt der Vollendung. Das ungeheure dreidimensionale Puzzlespiel war fertig, wenn man von ein paar unbedeutenden Stücken am Rand absah. Ein Beamter des Monitor-Korps war eingetroffen und stellte Fragen — offenbar befragte er jeden einzelnen, mit Ausnahme O’Maras. Er fragte sich immer wieder, ob wohl auch Waring verhört worden war und wenn ja, was der Traktorstrahlmann gesagt hatte. Der Inspektor war Psychologe, im Gegensatz zu den normalen Ingenieuroffizieren, die bereits am Projekt tätig waren. Vermutlich war der Mann ein Könner in seinem Fach. O’Mara hielt sich selbst auch nicht gerade für einen Schwachkopf; er hatte sich die Sachlage gründlich überlegt und sollte eigentlich wegen des Ausgangs der Untersuchungen des Monitors keine Sorge haben. Aber natürlich hing alles davon ab, was Waring dem Mann erzählte. Am Anfang der sechsten Woche seiner Rolle als Babypfleger — er las gerade in einem Buch über die eigenartigen und wunderbaren Krankheiten nach, die FROB-Babys oft befielen — meldete ihm sein Schleusensignal einen Besucher. Er stand schnell von der Couch auf und bemühte sich dreinzusehen, als gäbe es auf der ganzen Welt keine Sorgen für ihn. Aber es war nur Caxton. „Ich habe den Monitor erwartet“, sagte O’Mara. Caxton knurrte nur. „Noch nicht dagewesen, was? Vielleicht meint er, das wäre nur Zeitverschwendung. Nach allem, was wir ihm erzählt haben, hält er den Fall für abgeschlossen. Wenn er hierherkommt, wird er Handschellen mitbringen.“ O’Mara sah ihn nur an. Er war stark versucht, Caxton zu fragen, ob der Monitor Waring bereits verhört hätte, widerstand aber der Versuchung. „Der Grund meines Kommens“, fuhr Caxton barsch fort, „ist die Geschichte mit dem Wasser. Das Magazin berichtet mir, daß Sie etwa die dreifache Wassermenge angefordert haben, die Sie normalerweise verbrauchen können. Bauen Sie sich hier ein Aquarium oder so etwas?“ O’Mara vermied es bewußt, eine direkte Antwort zu geben. „Es ist gerade Zeit für Babys Bad“, meinte er stattdessen. „Möchten Sie zusehen?“ Er bückte sich, löste eine Fliese aus dem Boden und griff darunter. „Was tun Sie da?“ herrschte Caxton ihn an. „Das sind die Schwerkraftgitter, die dürfen Sie nicht berühren!“ Plötzlich kippte der Boden um dreißig Grad. Caxton taumelte gegen eine Wand und fluchte. O’Mara richtete sich auf, öffnete die innere Pforte der Luftschleuse und ging dann — man hatte jetzt den Eindruck des Bergaufgehens — auf die Schlafkammer zu. Caxton, der immer noch darauf bestand, daß O’Mara weder befugt noch genügend qualifiziert sei, um die Einstellung des künstlichen Schwerefelds zu verändern, folgte ihm. Drinnen sagte O’Mara: „Das ist der zweite Nahrungssprüher. Seine Düse ist etwas abgeändert, und man kann damit jetzt einen Hochdruckstrahl Wasser ›abschießen‹.“ Er richtete das Instrument auf Baby und begann zu demonstrieren, indem er eine kleine Fläche auf der Haut des FROB-Jungen behandelte. Der Gegenstand der Demonstration war im Augenblick damit beschäftigt, die Überreste eines von O’Maras Stühlen in eine völlig unkenntliche Form zu bringen. Er nahm die Menschen um sich überhaupt nicht wahr. „Sie sehen die Hautstelle, wo das Nahrungskonzentrat sich verhärtet hat“, fuhr O’Mara fort. „Diese Stelle muß regelmäßig gewaschen werden, denn sie verstopft sonst den Absorptionsmechanismus. Das macht junge Hudlarer sehr unglücklich und — äh — laut…“ O’Mara verstummte. Er sah, daß Caxton den Kleinen überhaupt nicht ansah, sondern das Wasser beobachtete, das von seiner Haut abprallte und über den jetzt schräg geneigten Boden in die offene Luftschleuse floß. Und das war auch ganz gut so, denn O’Maras Wasserstrahl hatte jetzt eine Stelle in der Haut des Kleinen entdeckt, deren Farbe und Struktur ihm völlig neu waren. Wahrscheinlich brauchte er sich darüber keine Sorgen zu machen, aber es war doch besser, wenn Caxton nichts bemerkte und keine Fragen stellte. „Was ist das dort oben?“ fragte Caxton und deutete zur Decke. Um dem Kleinen seine Liebkosungen zuteil werden zu lassen, hatte O’Mara ein System von Hebeln, Flaschenzügen und Gegengewichten aufgebaut, das er an der Decke befestigt hatte. Er war ziemlich stolz auf seine Erfindung; er konnte damit einen kräftigen Klaps austeilen — einen Schlag, der einen Menschen auf der Stelle getötet hätte. Er bezweifelte aber stark, ob Caxton dafür Verständnis haben würde. Wahrscheinlich würde der Abschnittsleiter vielmehr der Ansicht sein, daß er das Baby quälte und aus diesem Grunde den weiteren Gebrauch des Gerätes verbieten. O’Mara sah sich nicht um, sondern antwortete über die Schulter: „Nur ein Flaschenzug.“ Er wischte die feuchten Stellen auf dem Boden mit einem Tuch auf, das er dann in die jetzt zur Hälfte mit Wasser gefüllte Luftschleuse warf. Seine Sandalen und sein Overall waren naß, und so warf er sie ebenfalls hinein. Dann schloß er die innere Pforte und öffnete die äußere. Während das Wasser im Vakuum draußen verkochte, schaltete er die Schwerkraftgitter zurück, so daß der Boden wieder eben und die Wände vertikal wurden, dann holte er sich seine Sandalen, den Overall und das Tuch, die jetzt knochentrocken waren. „Sie scheinen ja alles hervorragend organisiert zu haben“, sagte Caxton zögernd, während er sich den Helm überstülpte. „Wenigstens kümmern Sie sich besser um den Kleinen als Sie sich um seine Eltern gekümmert haben. Sorgen Sie nur dafür, daß es so bleibt. Der Monitor kommt übrigens morgen um neun Uhr zu Ihnen“, fügte er hinzu und ging hinaus. O’Mara kehrte schnell in die Schlafkammer zurück, um sich die verfärbte Stelle auf Babys Rücken anzusehen. Sie war von hellbläulicher Farbe, und an dieser Stelle hatte sich auch die Haut, die sonst glatt und beinahe stahlhart war, verändert. Hier wirkte sie wie Hammerschlaglack. O’Mara rieb die Stelle leicht, worauf der FROB seine Tentakeln verdrehte und ein Geräusch von sich gab, das fragend klang. „Ich auch nicht“, sagte O’Mara geistesabwesend. Er erinnerte sich nicht, über Derartiges gelesen zu haben, aber schließlich hatte er das Buch ja noch nicht ganz beendet. Je eher er das tat, desto besser. Die wichtigste Verständigungsmethode zwischen Wesen verschiedener Spezies war, einen Translator zu benutzen, der auf elektronischem Wege alle sinnvollen Laute sortierte und klassifizierte, und sie dann in der Sprache seines Benutzers reproduzierte. Eine andere Methode, die gebraucht wurde, wenn eine große Zahl exakter Daten mehr subjektiver Art weitergeleitet werden mußte, war das System der Trainingsbänder. In diesem Falle wurden auf körperlichem Wege alle Sinneseindrücke, das gesamte Wissen und die Persönlichkeit eines Wesens in den Geist eines anderen übertragen. Weit davon entfernt, an dritter Stelle in der Rangliste der Popularität und Genauigkeit, war die geschriebene Sprache, die etwas hochtrabend „Universal“ genannt wurde. Universal nützte nur Wesen mit Gehirnen, die mit optischen Empfängern gekoppelt waren, die mit Markierungen auf einer ebenen Oberfläche etwas anzufangen wußten — kurz gesagt also, mit bedruckten Seiten. Während es viele Spezies mit dieser Fähigkeit gab, deckte sich doch die Farbauffassung der einzelnen Spezies überhaupt nicht miteinander. Ein für O’Maras Auge blau erscheinender Flecken mochte einem anderen Wesen gelbgrau bis purpurn erscheinen, und die Schwierigkeit bestand nun darin, daß vielleicht der Autor des Buches einer solchen Spezies angehören konnte. Im Anhang gab es zwar eine Farbvergleichstabelle, aber O’Mara scheute die Mühe, dort nachzuschlagen. Fünf Stunden darauf war er der Lösung des Rätsels noch nicht näher, und der blaugraue Flecken auf der Haut des FROB war zum beinahe Doppelten seiner ursprünglichen Größe angewachsen. O’Mara fütterte den Kleinen und fragte sich zugleich, ob das unter diesen Umständen richtig gehandelt war. Dann machte er sich wieder an seine Studien. Nach dem Handbuch gab es buchstäblich Hunderte von leichten Krankheiten, denen junge Hudlarer unterworfen waren. Dieser Kleine war den Krankheiten einfach dadurch entgangen, weil er seine Nahrung aus einem Tank erhalten hatte, und nicht mit Bakterien in Berührung gekommen war, wie sie auf seinem Heimatplaneten so häufig waren. Wahrscheinlich war die ganze Krankheit nichts Komplizierteres als das hudlarische Äquivalent zu Masern, überlegte O’Mara, aber jedenfalls sah sie ernst aus. Bei der nächsten Fütterung war die Zahl der Flecken auf sieben angewachsen; sie besaßen jetzt eine dunklere blaue Farbe, und Baby selbst hörte nicht auf, sich mit seinen Tentakeln zu kratzen. Offenbar juckten die farbigen Flecken unerträglich. Mit diesem neuen Wissen wandte O’Mara sich wieder dem Buch zu. Und dann fand er es plötzlich. Die Symptome wurden als rauhe, verfärbte Flecken auf der Oberhaut angegeben, wozu noch starker Juckreiz kam. Die Behandlung bestand darin, die gereizten Flecken einen nach dem anderen zu reinigen und es im übrigen der Natur zu überlassen, das ihre zu tun. Die Krankheit war in letzter Zeit auf Hudlar sehr selten geworden, und die Symptome tauchten mit dramatischer Plötzlichkeit auf, um ebenso schnell wieder zu verschwinden. Bei normaler Behandlung des Patienten, so stand in dem Buch zu lesen, war die Krankheit ungefährlich. O’Mara begann, die Zahlen in seine eigenen Maßbegriffe zu übersetzen. So genau ihm das möglich war, ermittelte er, daß die farbigen Flecken bis auf etwa achtzehn Zoll anwachsen sollten. Er hatte mit bis zu zwölf Flecken dieser Art zu rechnen, ehe sie wieder verschwinden würden. Und das sollte in etwa sechs Stunden der Fall sein. Er brauchte sich also gar keine Sorgen zu machen. 4 Bei Abschluß der nächsten Fütterung sprühte O’Mara die blauen Flecken sorgfältig sauber, aber der junge FROB schlug immer noch wütend nach sich selbst und zitterte, daß einem beim Zusehen Angst werden konnte. Wie ein Elefant mit sechs wütend herumfuchtelnden Rüsseln, dachte O’Mara und konsultierte das Buch noch einmal, aber der Autor bestand immer noch darauf, daß die Krankheit unter normalen Bedingungen harmlos und von kurzer Dauer war und daß die beste Behandlung darin bestand, dafür zu sorgen, daß die Flecken rein blieben. Man hatte schon seinen Ärger mit den Kindern, dachte O’Mara. Aber dieses Rumoren und Toben konnte doch nicht richtig sein. Vielleicht kratzte sich der Kleine nur aus reiner Gewohnheit, wenn das auch, seiner Hartnäckigkeit nach zu schließen, zweifelhaft war. O’Mara wollte versuchen, ihn abzulenken. Er wählte ein Fünfzig-Pfund-Gewicht und zog es mit Hilfe seiner Apparatur an die Decke. Dann hob und senkte er es rhythmisch über der Stelle, von der er festgestellt hatte, daß sie dem Kleinen die meiste Freude bereitete — einer Stelle etwa einen Meter hinter der harten, durchsichtigen Membrane, die seine Augen schützte. Ein Fünfzig-Pfund-Gewicht, das aus einer Höhe von anderthalb Meter stürzte, war für einen Hudlarer gerade ein freundlicher Klaps. Tatsächlich ließ die Wildheit des FROB jetzt nach — aber nur, solange O’Mara seine Klapse austeilte. Dann begann der ganze Zirkus von neuem. Einmal wäre der Kleine beinahe ins Wohnzimmer entwichen. Nur der Umstand, daß er zu groß war, um durch die Tür zu kommen, hinderte ihn daran. Bis zu diesem Augenblick war es O’Mara nicht bewußt gewesen, wie stark der FROB in fünf Wochen zugenommen hatte. Schließlich zwang ihn die Müdigkeit zum Aufgeben. Er ließ den FROB in der Schlafkammer weitertoben und warf sich draußen auf die Couch, um nachzudenken. Nach dem Buch müßten jetzt die blauen Flecken anfangen zu verblassen. Aber das taten sie nicht — sie hatten jetzt die Höchstzahl von zwölf erreicht und waren anstatt achtzehn oder weniger Zoll mindestens doppelt so groß. Sie waren so groß, daß bei der nächsten Fütterung die Absorptionsfläche des FROB auf die Hälfte zusammengeschrumpft sein würde, und das bedeutete, daß er zu wenig Nahrung bekommen und dadurch schwächer werden würde. Das Tuten eines Nebelhorns riß ihn aus seinen Gedanken. O’Mara hatte Erfahrung genug, um an diesem Laut zu erkennen, daß der Kleine Angst hatte, und die Tatsache, daß das Geräusch nicht die gewohnte Lautstärke hatte, verriet ihm, daß er auch anfing, schwächer zu werden. Er brauchte dringend Hilfe, aber O’Mara bezweifelte, ob es jemand gab, der helfen konnte. Caxton zu unterrichten, würde sinnlos sein — der Abschnittsleiter würde nur Pelling rufen, und Pelling verstand noch weniger von hudlarischen Kindern als O’Mara, der sich die letzten fünf Wochen auf diesen Gegenstand spezialisiert hatte. Und hinzu kam noch, daß Caxton O’Mara nicht leiden konnte. Niemand konnte O’Mara leiden. Aber mit diesem Gedanken kam er nicht weiter. Die Lösung seiner eigenen Probleme bestand — wenigstens teilweise — darin, daß er sich als verantwortungsbewußt, geduldig, freundlich erwies und zugleich den Beweis lieferte, daß er die verschiedenen anderen Attribute besaß, die von anderen Menschen respektiert wurden. Und dazu mußte er zuerst zeigen, daß man ihm die Sorge für ein Baby anvertrauen konnte. Er fragte sich plötzlich, ob der Monitor helfen konnte. Nicht persönlich; man konnte von einem Psycho-Offizier des Korps kaum erwarten, daß er die Krankheiten hudlarischer Kinder kannte, aber dafür stand eine große Organisation hinter ihm. Als Polizei der Galaxis, Mädchen für alles und höchste Autorität schlechthin, würde das Monitor-Korps binnen kurzem ein Wesen finden, das die nötigen Antworten kannte. Aber dieses Wesen wiederum würde beinahe sicher auf Hudlar selbst gefunden werden, und die Behörden dort wußten bereits, in welcher Lage sich die kleine Waise befand. Wahrscheinlich war schon seit Wochen Hilfe unterwegs. Zweifellos jedenfalls würde sie früher kommen, als ein Monitor sie bringen konnte. Vielleicht sogar noch rechtzeitig, um das Baby zu retten. Aber vielleicht auch nicht. Das Problem lag immer noch bei O’Mara. Die einzigen Vorschläge, die das Buch hatte machen können, waren Ruhe, peinliche Sauberkeit und sonst nichts gewesen. Wirklich, sonst nichts? Vielleicht steckte irgendeine unausgesprochene Voraussetzung dahinter. Die Hauptschwierigkeit war natürlich, daß der in Frage stehende Patient zur Zeit der Krankheit auf seinem Heimatplaneten lebte. Unter gewöhnlichen Umständen wie diesen war die Krankheit vermutlich harmlos und nur von kurzer Dauer. Aber O’Maras Schlafzimmer war für ein hudlarisches Baby alles andere als „normale Bedingungen“. Und dieser Gedanke brachte ihm die Antwort. Wenn es nur nicht zu spät war! O’Mara stieß sich von der Couch ab und rannte zum Schrank mit den Raumanzügen. Er kletterte gerade in das schwere Modell, als der Interkom summte. „O’Mara“, knurrte Caxtons Stimme, als er sich meldete, „der Monitor möchte Sie sprechen. Er hätte eigentlich erst morgen kommen sollen, aber…“ „Vielen Dank, Mr. Caxton“, mischte sich eine ruhige, kräftige Stimme ein. Dann folgte eine Pause und dann: „Mein Name ist Craythorne, Mr. O’Mara. Ich hatte Sie eigentlich morgen sprechen wollen, wie Sie wissen, aber ich bin mit einer anderen Arbeit früher fertig geworden und habe jetzt Zeit für ein vorläufiges, kurzes Gespräch…“ Eine dümmere Zeit hättest du dir auch nicht ausdenken können, dachte O’Mara wütend. Er streifte sich den Anzug vollends über, ließ aber die Handschuhe und den Helm liegen. Dann hantierte er an der Platte, die die Schaltung für die Luftzufuhr abdeckte. „… offen gestanden“, fuhr die leise Stimme des Monitors fort, „ist Ihr Fall für meine Arbeit hier sehr interessant. Meine Aufgabe ist es, für die Unterbringung der verschiedenen Lebensformen zu sorgen, die in Kürze als Personal für dieses Hospital eintreffen werden. Es gibt da eine Menge von Details, die zu beachten sind, aber im Augenblick bin ich frei. Und ich bin neugierig auf Sie, O’Mara. Ich möchte Ihnen Fragen stellen.“ Ein raffinierter Bursche, dachte O’Mara. Gleichzeitig stellte er fest, daß die Luftzufuhr so eingestellt war, wie er es sich gewünscht hatte. Er ließ die Deckplatte lose hängen und hob eine Bodenplatte auf, um an das Schwerkraftgitter zu gelangen. Etwas abwesend meinte er: „Sie müssen entschuldigen, wenn ich während des Redens weiterarbeite. Caxton kann Ihnen erklären…“ „Ich habe ihm schon von dem Kleinen erzählt“, unterbrach ihn Caxton, „und wenn Sie sich einbilden, daß Sie ihm etwas vormachen können, wenn Sie jetzt die besorgte Mutter spielen…!“ „Ich verstehe“, sagte der Monitor. „Ich möchte auch sagen, daß es beinahe grausam ist, Sie zu zwingen, mit einem FROB-Säugling zu leben, und daß man Ihnen für das, was Sie die letzten fünf Wochen mitmachen mußten, zehn Jahre von Ihrer Strafe abziehen sollte — natürlich nur in dem Fall, daß man Sie schuldig findet. Und jetzt würde ich vorschlagen, daß wir die Kamera einschalten. Ich finde, es ist immer besser, wenn man seinen Gesprächspartner sieht.“ Der Ruck, mit dem die Schwerkraftgitter von ein auf zwei G schalteten, überraschte O’Mara. Er stürzte. Ein erschreckter Aufschrei von seinem Pflegling im Nebenzimmer mußte das Gespräch, das er dabei verursachte, überdeckt haben, denn seine Gesprächspartner erwähnten nichts. Er stemmte sich mühsam hoch und blieb in Hockstellung sitzen. Er mußte sich anstrengen, um nicht zu keuchen. „Tut mir leid, meine Kamera funktioniert nicht.“ Der Monitor schwieg gerade lange genug, um O’Mara merken zu lassen, daß er die Lüge durchschaut hatte und im Augenblick nicht darauf einzugehen wünschte. Schließlich meinte er: „Nun, dann können wenigstens Sie mich sehen.“ Und da leuchtete O’Maras Sichtplatte auf. Er sah jetzt einen jungen Mann mit kurz geschorenem Haar, dessen Augen zwanzig Jahre älter als seine restlichen Züge schienen. Auf der adretten dunkelgrünen Uniform sah man die Schulterstücke eines Majors, der Kragenspiegel zeigte einen Äskulapstab. O’Mara dachte, daß er unter anderen Umständen den Mann sicher sympathisch gefunden hätte. „Ich habe im Nebenzimmer zu tun“, log O’Mara wieder. „Ich bin in einer Minute zurück.“ Er begann damit, daß er den Antischwerkraftgürtel an seinem Anzug auf zwei G Abstoßung einstellte, wodurch normalerweise die Anziehung des Bodens genau ausgeschaltet werden würde, so daß er diese ohne zu große Strapazen auf vier G schalten konnte. Und dann konnte er den Gürtel auf drei G schalten und somit scheinbar unter der normalen Schwerkraft von ein G arbeiten. Wenigstens hätte das so sein sollen. Stattdessen produzierten der G-Gürtel oder die Bodengitter oder vielleicht sogar beide zusammen Halb-G-Schwingungen, und das ganze Zimmer spielte verrückt. Es war gerade, als säße man in einem Expreßlift, der beständig anfuhr und wieder stoppte. Die Frequenz der Gravitationswellen wurden rasch schneller, bis O’Mara so hin und her geschüttelt wurde, daß seine Zähne klapperten. Ehe er darauf reagieren konnte, kam eine neue noch gefährlichere Komplikation. Die Bodengitter arbeiteten nicht mehr im rechten Winkel zu ihrer Oberfläche, sondern wichen unregelmäßig von zehn bis dreißig Grad von der Vertikalen ab. Kein sturmgepeitschtes Schiff hatte je soviel Schlingern und Stampfen über sich ergehen lassen müssen. O’Mara taumelte, griff instinktiv nach der Couch, erreichte sie nicht und wurde gegen die Wand geschleudert. Die nächste Welle warf ihn gegen die gegenüberliegende Wand, bis es ihm gelang, den G-Gürtel auszuschalten. Und dann beruhigte sich der Raum in einem gleichmäßigen Schwerefeld von zwei G. „Dauert das lang?“ fragte der Monitor plötzlich. O’Mara hatte den Major während der letzten hektischen Sekunden beinahe völlig vergessen. Er tat sein Bestes, um dafür zu sorgen, daß seine Stimme so natürlich wie möglich klang. „Kann schon sein. Könnten Sie später anrufen?“ „Ich warte“, sagte der Monitor. Die nächsten paar Minuten versuchte O’Mara, die blauen Flecken und Schrammen zu vergessen, die er trotz des Schutzes, den der schwere Raumanzug ihm gewährte, erlitten hatte. Er konzentrierte sich ganz darauf, mit heiler Haut aus diesem Dilemma herauszukommen. Und langsam begann er zu begreifen, was geschehen war. Wenn zwei Antischwerkraftgeneratoren der gleichen Feldstärke und Frequenz dicht beieinander gebraucht wurden, entwickelte sich ein Interferenzfeld, das die Stärke beider Geräte beeinflußte. Die Gitter in O’Maras Quartier waren ausschließlich provisorischer Natur. Sie bezogen ihre Kraft aus einem Generator, der dem in seinem Anzug glich, wenn auch normalerweise ein Frequenzunterschied eingebaut war, um zu verhindern, daß solche Instabilitäten vorkamen. Aber O’Mara hatte in den vergangenen fünf Wochen dauernd an den Gitterschaltungen herumgespielt — genau genommen jedesmal, wenn der Kleine gebadet werden mußte — und damit hatte er vermutlich, ohne es zu wissen, die Frequenz geändert. Er wußte nicht, was er falsch gemacht hatte, und es blieb auch nicht genug Zeit, um den Fehler zu reparieren, selbst wenn er gewußt hätte, wie das anzustellen war. So blieb ihm nur, vorsichtig seinen G-Gürtel wieder einzuschalten und langsam die Feldstärke zu steigern. Er las jetzt an der kleinen Skala an seinem Handgelenk dreiviertel G ab. Vier G weniger dreiviertel gab etwas mehr als drei G. Es sah so aus, dachte O’Mara grimmig, als würde er die schwierigere Methode wählen müssen. 5 O’Mara klappte schnell seinen Helm zu und schloß dann ein Kabel von seinem Anzugmikrophon an den Interkom an, um sprechen zu können, ohne daß Caxton oder der Monitor bemerkten, daß er den Anzug trug. Wenn er Zeit haben sollte, um seinen Plan durchzuführen, durften sie nicht ahnen, daß in seiner Kabine irgend etwas Außergewöhnliches vor sich ging. Dann kamen die letzten Schaltvorgänge am Luftdruckregulator und den Schwerkraftgittern. Binnen zwei Minuten hatte sich der atmosphärische Druck in den beiden Räumen auf das sechsfache erhöht, und die Schwerkraft betrug vier G, also praktisch betrachtet „normale Umweltbedingungen“ für einen Hudlarer. Seine Schultermuskeln schmerzten — sein schwacher G-Gürtel absorbierte nur drei Viertel G von den vier G — dann zog er die schwere Last, die sein Arm geworden war, aus der Gitterkammer und wälzte sich auf den Rücken. Ihm war, als säße das FROB-Baby auf seiner Brust. Große schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen. Durch sie sah er undeutlich einen Teil der Decke und in einem völlig verrückten Winkel den Bildschirm. Das Gesicht darauf begann ungeduldig zu werden. „Hier bin ich wieder, Major“, keuchte O’Mara. Er kämpfte darum, seinen Atem zu kontrollieren, so daß die einzelnen Worte nicht zu gepreßt erschienen. „Sie wollen wahrscheinlich hören, was ich über den Unfall zu sagen habe?“ „Nein“, lehnte der Monitor ab. „Ich habe Caxtons Bandbericht gehört. Mich interessiert vielmehr, was Sie getrieben haben, ehe Sie hierher kamen. Ich habe Nachforschungen angestellt, und mir ist da etwas aufgefallen, was…“ Eine donnernde Lärmeruption unterbrach ihr Gespräch. O’Mara erkannte das Signal sofort richtig — der FROB war hungrig und schlecht gelaunt. Mit geradezu unmenschlicher Anstrengung wälzte O’Mara sich zur Seite und stemmte sich dann auf den Ellbogen hoch. So verhielt er eine Weile, um Kräfte zu sammeln, und zog sich dann auf Hände und Knie. Als ihm das schließlich gelungen war, stellte er fest, daß seine Arme und Beine zum Platzen angeschwollen waren. Er legte sich stöhnend flach auf die Brust. Im gleichen Augenblick wurde ihm schwarz vor den Augen. Er konnte weder auf Händen und Knien kriechen noch konnte er sich auf dem Bauch fortbewegen. Und daß er unter drei G nicht aufstehen und gehen konnte, stand fest. Was blieb ihm also übrig? O’Mara wälzte sich wieder mühsam zur Seite und rollte sich zurück. Diesmal aber stemmte er sich auf die Ellbogen. Die Nackenstütze seines Anzugs hielt seinen Kopf, aber die Ärmel waren innen nur sehr dünn gepolstert, und so schmerzten seine Ellbogen. Die Anstrengung, seinen Körper, der jetzt dreimal so schwer wie normal war, aufrecht zu halten, verursachte ihm Herzklopfen. Und das schlimmste von allem war, daß ihm bereits wieder schwarz vor den Augen wurde. Aber es mußte doch irgendeinen Weg geben, um die verschiedenen Druckstadien in seinem Körper auszugleichen oder zumindest so zu verteilen, daß er bei Bewußtsein bleiben und sich bewegen konnte. O’Mara versuchte, sich die Konstruktion der Beschleunigungssessel zu vergegenwärtigen, die vor der Entdeckung der künstlichen Schwerkraft in Raumschiffen benutzt worden waren. Man hatte damals in beinahe kniender Haltung gesessen, erinnerte er sich plötzlich. Zoll für Zoll schob er seine Ellbogen vor und näherte sich so dem Schlafzimmer. Jetzt kamen ihm seine Muskeln zweifellos zunutze — denn unter Umweltbedingungen wie diesen wäre jeder normal starke Mann zweifellos flach gegen den Boden gepreßt worden. Trotzdem brauchte er fünfzehn Minuten, um den Nahrungssprüher im Schlafzimmer zu erreichen, und diese ganzen fünfzehn Minuten schrie das Baby so, daß O’Mara die Trommelfelle zu platzen drohten. Infolge des erhöhten Luftdrucks war der Lärm so ungeheuer laut, daß jede Faser in O’Maras Körper mitzuschwingen schien. „Ich will mit Ihnen sprechen!“ schrie der Monitor, als einmal einen Augenblick Stille eintrat. „Können Sie dieses verdammte Ding nicht einen Augenblick zum Schweigen bringen?“ „Es hat Hunger“, sagte O’Mara. „Wenn ich es gefüttert habe, ist es ruhig…“ Das Sprühgerät war auf einen Rollwagen aufmontiert, und O’Mara hatte einen Fußschalter angebracht, um beide Hände zum Zielen frei zu haben. Jetzt, da sein Pflegling durch eine Schwerkraft von vier G gehemmt war, brauchte O’Mara aber seine Hände nicht. Er schob den Wagen mit den Schultern in die richtige Stelle und drückte dann das Pedal mit dem Ellbogen nieder. Der Hochdruckstrahl bog sich infolge der zusätzlichen Schwerkraft etwas nach unten durch, aber es gelang dennoch, das Baby mit Nahrung zu bedecken. Viel schwieriger war es, die entzündeten Stellen von dem Nahrungsbrei zu reinigen. Die Wasserdüse, die vom Boden aus bedient, höchst ungenau funktionierte, kam dafür überhaupt nicht in Frage. So mußte er den großen, grellblauen Flecken — er hatte sich aus drei zusammengewachsenen Flecken gebildet — der jetzt beinahe ein Viertel der gesamten Hautfläche ausmachte, mit den Händen reinigen. Nachher streckte O’Mara die Beine aus und ließ sich müde auf den Boden sinken. Trotz der drei G, die auf ihm lasteten, empfand er diese Stellung als große Erleichterung. Das Baby hatte zu schreien aufgehört. „Was ich sagen wollte“, sagte der Monitor, als das Schweigen ein paar Minuten gedauert hatte, „ist, daß Ihre früheren Arbeitszeugnisse nicht ganz mit dem zusammenpassen, was ich hier finde. Sie waren auch vorher ein unruhiger, ewig unzufriedener Geist, aber Sie waren jedesmal bei Ihren Kollegen äußerst populär, und das galt in etwas geringerem Maße auch für Ihre Vorgesetzten — letzteres hauptsächlich, weil Ihre Vorgesetzten sich manchmal irrten, Sie nie…“ „Ich war genauso klug wie sie“, sagte O’Mara müde, „und habe es oft genug bewiesen, aber ich sah nicht intelligent aus.“ Eigenartig, dachte O’Mara. Seine persönlichen Schwierigkeiten schienen ihn jetzt kaum zu interessieren. Er konnte einfach nicht von dem blauen Flecken auf der Haut des Babys wegsehen. Die Farbe war dunkler geworden, und es schien, als wäre der Flecken in der Mitte angeschwollen. Anscheinend hatte sich die superharte Oberhaut aufgeweicht, und der ungeheure innere Druck des FROB hatte eine Schwellung verursacht. Indem er die Schwerkraft und den Druck auf die Norm von Hudlar brachte, sollte es gelingen, diese Entwicklung aufzuhalten — wenn es sich nicht um ein Symptom einer völlig anderen Erkrankung handelte. O’Mara hatte daran gedacht, seine Idee einen Schritt weiter durchzuführen und die Luft rings um den Patienten mit Nahrungsflüssigkeit anzureichern. Auf Hudlar bestand die Nahrung der Eingeborenen aus winzigen Organismen, die in ihrer überaus dicken Atmosphäre herumschwebten, aber im Handbuch stand ausdrücklich, daß Nahrung aller Art den befallenen Hautstellen unter allen Umständen ferngehalten werden mußte. „… trotzdem“, sagte der Monitor, „hätte man Ihnen geglaubt, wenn bei einem Ihrer letzten Jobs eine ähnliche Geschichte passiert wäre. Selbst wenn das Ganze Ihre Schuld gewesen wäre, hätten sich alle vor Sie gestellt, um Sie vor Außenseitern wie mir zu schützen. Wie kommt es also, daß aus einer freundlichen, angenehmen Persönlichkeit so etwas wurde…?“ „Ich habe mich gelangweilt“, erklärte O’Mara. Sein Pflegling hatte keinen Laut mehr von sich gegeben, aber O’Mara hatte die charakteristischen Tentakelbewegungen des FROB gesehen, die darauf hinwiesen, daß bald wieder ein neuer Ausbruch kommen würde. Und er kam auch. Während der nächsten zehn Minuten war es daher natürlich unmöglich zu sprechen. O’Mara wälzte sich auf die Seite und rollte sich dann wieder auf seine jetzt abgeschürften und blutenden Ellbogen. Er wußte, was nicht stimmte; der Kleine hatte sein übliches „Streicheln“ nach dem Essen vermißt. O’Mara humpelte langsam zu den beiden Seilen des von ihm eigens für diesen Zweck entwickelten Flaschenzuges. Aber die Seilenden hingen über einen Meter über dem Boden. Auf einem Ellbogen gestützt und bemüht, das tote Gewicht des anderen Arms zu heben, dachte O’Mara, das Seil könnte jetzt ebensogut vier Meilen von ihm entfernt sein. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht, so sehr mußte er sich abmühen. Er zitterte so, daß seine behandschuhte Hand das Seil zum erstenmal nicht erreichte und er ein zweitesmal danach greifen mußte. Diesmal hatte er mehr Glück. Der Apparat funktionierte nach einem System von Gegengewichten. Für die Längsseile bedurfte es daher keiner besonderen Kraft. Ein schweres Gewicht stürzte auf den Rücken des Kleinen und verabreichte ihm somit einen freundlichen Klaps. O’Mara wartete ein paar Minuten und bemühte sich dann, den Versuch mit dem anderen Seil zu wiederholen; wenn er daran zog, würde er gleichzeitig das erste Gewicht wieder in die Höhe befördern. Nach etwa dem achten Klaps stellte er fest, daß er das Ende des Seils, nach dem er griff, nicht sehen konnte, obwohl er es mit der Hand fand. Sein Kopf war zu hoch über seinem Körper, und er war dauernd im Begriff, das Bewußtsein zu verlieren. Die verringerte Blutzufuhr zu seinem Gehirn hatte auch andere Auswirkungen… „… schön brav, schön brav“, hörte O’Mara sich sagen. „Jetzt ist’s gut. Pappi macht’s schon richtig. Schön brav jetzt, ruhig…“ Das Komische daran war, daß er wirklich Verantwortung, ja beinahe Sorge für das Baby empfand. Dafür hatte er es nicht gerettet! Vielleicht riefen auch die drei G, die ihn gegen den Boden preßten und jeden Atemzug zu anstrengend wie ein ganzes Tagewerk und die kleinste Bewegung zu einer Operation machten, die ihm jede Kraftreserve abverlangte, die Erinnerung an eine andere Art von Druck in ihm wach — die langsame, unaufhaltsame Bewegung von zwei großen leblosen Metallmassen. Der Unfall. Als leitender Monteur dieser Schicht hatte O’Mara gerade die Warnlichter eingeschaltet, als er die beiden Hudlarer ihrem Sprößling nachjagen sah, der sich auf einer der gerade in Montage befindlichen Flächen befand. Er hatte ihnen durch seinen Translator nachgerufen, sie aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen und es ihm zu überlassen, den Kleinen zu verjagen — da Baby viel kleiner war als seine Eltern, würden die sich langsam schließenden Flächen länger brauchen, um es zu erreichen, und während dieser paar zusätzlichen Minuten hätte O’Mara es aus der Gefahrenzone holen können. Aber die beiden Hudlarer hatten entweder ihre Geräte abgeschaltet oder wollten ihr Kind nicht einem dieser winzigen Erdenmenschen anvertrauen. Was auch immer der Grund sein mochte, sie blieben in der Gefahrenzone, bis es zu spät war. O’Mara hatte hilflos zusehen müssen, wie die beiden Bauteile sie zuerst einschlossen und dann zermalmten. Der Anblick des Kleinen, der wegen seiner geringeren Größe immer noch unverletzt war und zwischen den Leichen seiner Eltern schwebte, ließ O’Mara blitzartig reagieren. Er konnte den Kleinen noch aus der Gefahrenzone jagen, ehe die beiden Teile sich an der Stelle zusammenfügten, wo er sich befunden hatte. Er selbst konnte sich gerade noch in Sicherheit bringen — ein paar bange Sekunden lang hatte er schon geglaubt, er müßte ein Bein zurücklassen. Das war auch kein Platz für Kinder, dachte er und blickte auf den zuckenden Körper mit den blauen Flecken. Man sollte es einfach nicht zulassen, daß Kinder hierhergebracht wurden — nicht einmal die Kinder von Leuten, wie die Hudlarer es waren. Aber jetzt hörte er wieder Major Craythornes Stimme. „… nachdem, was ich hier höre“, sagte der Monitor, „kümmern Sie sich sehr gut um Ihren Schützling. Es wird unbedingt zu Ihren Gunsten sprechen, wenn Sie den Kleinen in gutem Zustand übergeben…“ In gutem Zustand, dachte O’Mara, als er wieder nach dem Seil griff. In gutem Zustand! „… aber es gibt noch andere Überlegungen“, fuhr die ruhige Stimme fort. „Waren Sie unvorsichtig, indem Sie die Warnlichter erst nach dem Unfall einschalteten, wie man Ihnen vorwirft? Ungeachtet der guten Zeugnisse, die man Ihnen ausstellt, waren Sie hier ein streitsüchtiger Raufbold, und besonders Ihre Einstellung gegenüber Waring…!“ Der Monitor unterbrach sich und musterte ihn mißbilligend. Dann fuhr er fort: „Vor ein paar Minuten sagten Sie, Sie hätten das alles getan, weil Sie sich langweilten. Erklären Sie das.“ „Einen Augenblick, Major“, unterbrach ihn Caxton, dessen Gesicht plötzlich hinter dem Craythornes auf dem Bildschirm erschien. „Er versucht uns aus irgendeinem Grunde hinzuhalten, davon bin ich überzeugt. All diese Unterbrechungen, diese keuchende Stimme, mit der er spricht, und dieses Getue mit dem Baby, ist nur Bluff, um uns zu zeigen, was für ein großartiger Babysitter er ist. Ich denke, ich gehe hinüber und hole ihn hierher, damit er Ihre Fragen beantwortet.“ „Das wird nicht nötig sein“, sagte O’Mara schnell. „Ich stehe Ihnen jetzt voll zur Verfügung.“ Er sah vor seinem geistigen Auge Caxtons Reaktion, wenn der andere das Baby in seinem augenblicklichen Zustand erblickte; Caxton würde nicht lange überlegen oder Erklärungen abwarten oder gar darüber nachdenken, ob es fair war, einen ET in die Obhut eines Menschen zu geben, der seine Physiologie überhaupt nicht kannte. Er würde nur reagieren. Und zwar unangenehm. Und was den Monitor anging… O’Mara dachte, er würde, was den Unfall betraf, mit einem blauen Auge davonkommen. Aber wenn der Kleine auch starb, hatte er keine Chance mehr. Die Krankheit des Babys war ungewöhnlich, und es hätte schon vor Tagen auf die Behandlung reagieren müssen. Statt dessen wurde sein Zustand von Tag zu Tag schlechter, und es würde zweifellos sterben, wenn O’Maras letzter Versuch, die Umweltbedingungen seines Heimatplaneten zu reproduzieren, mißlang. Was O’Mara jetzt brauchte, war Zeit. Und zwar, wenn das Lehrbuch recht hatte, vier oder fünf Stunden. Plötzlich wurde ihm bewußt, wie nutzlos das alles war. Der Zustand des Babys hatte sich nicht gebessert — es zuckte und schlug um sich und sah ausgesprochen krank und bedauernswert aus. O’Mara fluchte hilflos. Was er jetzt versuchte, hätte er schon vor Tagen versuchen müssen. Sein Baby war so gut wie tot, und wenn er die jetzige Behandlung noch fünf oder sechs Stunden fortsetzte, würde ihn das wahrscheinlich töten oder zumindest sein Leben lang zum Krüppel machen. 6 Die Tentakel des Babys krümmten sich in der Art und Weise, von der O’Mara wußte, daß dies der Auftakt zu neuem Gebrüll war. Er stemmte sich mühsam auf die Ellbogen, um erneut mit dem „Streicheln“ zu beginnen. Es war das mindeste, was er tun konnte. Obwohl er davon überzeugt war, daß das alles nutzlos war, wollte er dem Baby die Chance geben. O’Mara mußte Zeit haben, um seine Behandlung ohne Unterbrechung fortzusetzen, und um sich diese Zeit zu verschaffen, mußte er die Fragen dieses Monitors ausführlich und zufriedenstellend beantworten. Wenn Baby wieder zu schreien anfing, würde er das nicht tun können. „… für Ihre Unterstützung“, sagte der Major trocken. „Erst möchte ich eine Erklärung für Ihren plötzlichen Persönlichkeitswechsel.“ „Ich langweilte mich“, sagte O’Mara. „Hatte nicht genug zu tun. Vielleicht war ich auch ein wenig durchgedreht. Aber der Hauptgrund, daß ich mich so unbeliebt machte, war, daß es hier einen Job gab, den ein netter Junge einfach nicht schaffte. Ich habe eine Menge studiert und halte mich für einen ziemlich guten Psychologen…“ Und dann kam plötzlich die Katastrophe. O’Maras Ellbogen glitt aus, als er nach dem Seil an der Decke griff, und er krachte aus einer Entfernung von zweieinhalb Fuß auf den Boden. Bei drei G entsprach das einem Fall aus zwei, Meter Höhe. Zum Glück trug er einen schweren Anzug und gepolsterten Helm, so daß er die Besinnung nicht verlor. Aber er schrie auf und hielt sich instinktiv am Seil fest, als er stürzte. Das war sein Fehler. Ein Gewicht stürzte, das andere schoß zu weit in die Höhe. Es traf krachend gegen die Decke und lockerte die Klammer, die das leichte Metallgitter mit dem Gewicht trug. Das ganze Gebilde stürzte bei vier G auf das Baby herunter. In seinem benommenen Zustand konnte O’Mara sich die Wucht des Aufpralls nicht vorstellen — ob das mehr als der gewöhnliche Klaps war, vielleicht soviel wie ein kräftiger Schlag auf das Hinterteil oder etwas viel Gefährlicheres. Das Baby war nachher jedenfalls sehr ruhig, und das machte ihm Sorgen. „… zum drittenmal“, schrie der Monitor, „was zum Teufel geht dort vor?“ O’Mara murmelte etwas, was er selbst nicht verstand. Dann mischte Caxton sich ein. „Irgend etwas stimmt dort nicht, und ich wette, es hat mit dem Baby zu tun! Ich gehe hinüber und sehe nach.“ „Nein, warten Sie!“ sagte O’Mara verzweifelt. „Geben Sie mir sechs Stunden…“ „Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen“, erklärte Caxton. „Caxton!“ schrie O’Mara, „wenn Sie durch meine Luftschleuse kommen, bringen Sie mich um! Ich öffne die innere Pforte, und wenn Sie die äußere öffnen, bläst meine Luft hinaus. Dann verliert der Major seinen Gefangenen.“ Plötzlich herrschte Schweigen und dann: „Wofür wollen Sie denn sechs Stunden?“ fragte der Monitor. O’Mara versuchte, den Kopf zu schütteln, um klarer denken zu können, aber jetzt wog er dreimal so viel wie normal! Wofür wollte er wirklich sechs Stunden? Er sah sich um und dachte nach. Die „Spritzpistole“ und der daran angeschlossene Wassertank waren durch den Sturz des Gewichts demoliert. Er konnte seinen Pflegling weder füttern noch waschen — es blieb ihm also nur, sechs Stunden auf ein Wunder zu warten. „Ich komme hinüber“, sagte Caxton starrköpfig. „Das tun Sie nicht“, sagte der Major immer noch höflich, aber bestimmt. „Ich will dieser Sache auf den Grund gehen. Sie warten draußen, bis ich allein mit O’Mara gesprochen habe. Und jetzt, O’Mara, möchte ich wissen, was bei Ihnen vorgeht!“ Wieder flach auf dem Rücken liegend, kämpfte O’Mara um seinen Atem, um weiterreden zu können. Er hatte entschieden, daß es am besten sein würde, dem Monitor die volle Wahrheit zu sagen und ihn dann zu bitten, ihm auf die einzige Weise zu helfen, durch die sich vielleicht auch das Baby retten ließ — indem er ihn sechs Stunden lang allein ließ. Aber O’Mara war jetzt völlig zerschlagen und sah so schlecht, daß er manchmal nicht wußte, ob er die Augen offen oder geschlossen hatte. Er sah, wie jemand dem Major einen Zettel hinhielt, aber Craythorne las ihn nicht, bis O’Mara zu Ende gesprochen hatte. „Sie sitzen ziemlich in der Tinte“, meinte er schließlich. Einen Augenblick glaubte O’Mara so etwas wie Mitgefühl in seinen Augen zu lesen, aber dann strafte Craythornes Stimme diesen Eindruck Lügen. „Normalerweise würde ich Ihrem Vorschlag folgen und Ihnen diese sechs Stunden bewilligen. Schließlich haben Sie das Buch und wissen mehr als wir. Aber die Situation hat sich in den letzten paar Minuten verändert. Ich habe gerade erfahren, daß zwei Hudlarer eingetroffen sind, einer von ihnen ist Arzt. Geben Sie es auf, O’Mara. Sie haben es versucht, aber jetzt überlassen Sie es den Fachleuten, die Situation zu retten. Um des Babys willen“, fügte er hinzu. Drei Stunden später. Caxton, Waring und O’Mara saßen dem Major gegenüber. Craythorne war gerade hereingekommen. „Ich werde die nächsten paar Tage sehr beschäftigt sein. Wir müssen diese Angelegenheit also schnell erledigen“, begann er. „Zuerst der Unfall. O’Mara, Ihre Verteidigung hängt völlig davon ab, ob Waring Ihre Aussage bestätigt. Mir scheint, Sie haben sich die Sache ziemlich gut überlegt. Warings Aussage habe ich schon gehört, aber aus Neugierde möchte ich gern wissen, was Sie glauben, daß er gesagt hat?“ „Er hat meine Aussage bestätigt“, sagte O’Mara müde. „Er hatte keine andere Wahl.“ Er blickte auf seine Hände und mußte immer noch an das kranke Baby denken, das er in seinem Zimmer zurückgelassen hatte. Immer wieder versuchte er, sich einzureden, daß er nicht für das Geschehene verantwortlich war, aber tief in seinem Innern spürte er, daß das Baby jetzt unversehrt gewesen wäre, wenn er früher mit der Druckbehandlung begonnen hätte. Das Ergebnis der Nachforschungen über den Unfall interessierte jetzt überhaupt nicht und auch die Geschichte mit Waring nicht. „Warum glauben Sie, daß er keine andere Wahl hatte?“ fragte der Monitor drängend. Caxtons Mund stand offen, und er sah sich verwirrt um. Waring wich O’Maras Blick aus und begann rot zu werden. „Als ich hierherkam“, begann O’Mara ausdruckslos, „suchte ich einen zweiten Job, um meine Freizeit auszufüllen, und da verfiel ich auf Waring. Er ist der Grund dafür, daß ich mich so unbeliebt machte, anders konnte ich ihm nicht helfen. Aber um das zu verstehen, müssen wir etwas weiter zurückgehen. Wegen dieses Unfalls am Energiemeiler“, fuhr O’Mara fort, „waren alle Männer dieses Abschnitts sehr in Warings Schuld — Sie haben inzwischen ja sicher von der Sache gehört. Waring selbst war übel dran. Körperlich ist er unter dem Durchschnitt — er brauchte Spritzen, um seinen Blutdruck aufzubauen. Er war gerade stark genug, um seine Schalter betätigen zu können, und er erging sich im übrigen in lauter Selbstmitleid. Psychologisch war er ein Wrack; trotz aller Versicherungen Pellings war er davon überzeugt, unter gefährlicher Anämie zu leiden. Er glaubte auch, daß er seit dem Unfall steril sei — auch das gegen die Aussage des Arztes. Und aus dieser Überzeugung heraus benahm er sich so, daß er jedem normalen Menschen einfach auf die Nerven gehen mußte — dabei war die ganze Geschichte nur Einbildung. Ihm fehlte überhaupt nichts. Als ich sah, wie die Dinge standen, fing ich an, mich jedesmal über ihn lustig zu machen, wenn ich ihn sah. Ich habe ihn gepeinigt bis aufs Blut. Also sehe ich die Dinge so, daß er gar keine andere Wahl hatte, als meine Aussage zu bestätigen. Das erforderte einfach die Dankbarkeit.“ „Langsam fange ich an zu begreifen“, sagte der Major. „Nur weiter.“ „Die Männer um ihn herum standen alle sehr in seiner Schuld“, fuhr O’Mara fort. „Aber anstatt vernünftig von Mann zu Mann mit ihm zu reden, überhäuften sie ihn mit ihrer Sympathie. Sie ließen ihn jedesmal bei Prügeleien gewinnen, desgleichen beim Kartenspielen oder was auch sonst immer, und behandelten ihn, als wäre er etwas Besonderes. Ich tat nichts dergleichen. Jedesmal, wenn er lispelte oder stotterte oder sich in irgendeiner Sache ungeschickt benahm — ob das nun einen natürlichen oder einen eingebildeten Grund hatte — hackte ich auf ihm herum. Vielleicht war ich manchmal zu grausam, aber vergessen Sie nicht, daß ich ein Mann war, der all den Schaden ungeschehen machen wollte, den fünfzig andere angerichtet hatten. Natürlich konnte er mich nicht ausstehen, aber er wußte immer genau, wie er mit mir dran war. Und ich habe ihm nie etwas geschenkt. Die wenigen Male, wo er mir überlegen war, hatte er wirklich aus eigener Kraft gewonnen — im Gegensatz zu seinen Freunden, die sich von ihm in allem schlagen ließen und so seine Überlegenheit sinnlos machten. Und das wußte er. Es war genau das, was er brauchte — jemand, der ihn als gleichberechtigt behandelte und ihm nichts schenkte. Und als dann diese Geschichte kam“, schloß O’Mara, „war ich ziemlich sicher, daß er einsehen mußte, was ich für ihn getan hatte — bewußt wie auch unbewußt —, und diese einfache Dankbarkeit neben der Tatsache, daß er im Grunde ein anständiger Kerl ist, waren für mich die Gewähr, daß er die Wahrheit sagen würde. Habe ich recht?“ „Ja“, nickte der Major. Er hielt inne, um Caxton abzuwehren, der protestierend aufgesprungen war, und fuhr dann fort: „Und das bringt uns zu dem FROB-Säugling. Offenbar zog sich das Baby eine der ungefährlichen, aber seltenen Krankheiten zu, die nur auf dem Heimatplaneten erfolgreich behandelt werden können.“ Craythorne lächelte plötzlich. „Das dachten Sie wenigstens bis vor ein paar Stunden. Jetzt erklären unsere hudlarischen Freunde, daß die richtige Behandlung bereits von Ihnen eingeleitet wurde und daß sie jetzt nur noch ein paar Tage zu warten brauchen, bis der Kleine wieder völlig hergestellt sein wird. Aber sie sind Ihnen sehr böse, O’Mara“, fuhr der Monitor fort. „Sie sagen, Sie hätten ein besonderes Gerät zum Streicheln und Besänftigen des Kindes aufgebaut und das viel öfter als wünschenswert benutzt. Das Baby ist überfüttert und maßlos verzogen, sagen sie, so sehr, daß es im Augenblick Menschen Mitgliedern seiner eigenen Spezies vorzieht…“ Plötzlich schlug Caxton auf den Tisch. „Ihr werdet ihm das doch nicht durchgehen lassen!“ schrie er mit rotem Gesicht. „Waring weiß ja nicht, wovon er redet…“ „Mr. Caxton“, sagte der Monitor scharf, „alle Beweise, die uns zugänglich sind, deuten darauf hin, daß Mr. O’Mara keine Schuld trifft, sowohl was den Unfall als auch was seine Pflege des Säuglings angeht. Aber ich bin noch nicht ganz mit ihm fertig. Vielleicht würden Sie beide daher so freundlich sein und mich mit ihm allein lassen…“ Caxton stürmte hinaus, langsam gefolgt von Waring. Dieser blieb an der Tür stehen, drehte sich um und warf O’Mara drei nicht wiederzugebende Worte an den Kopf, grinste und ging hinaus. Der Major seufzte. „O’Mara“, sagte er streng. „Sie sind wieder einmal einen Job los. Ich gebe zwar in der Regel keine Ratschläge, die man nicht von mir verlangt, aber diesmal möchte ich Sie doch an ein paar Dinge erinnern. In einigen Wochen werden der Stab und das Personal dieses Hospitals eintreffen, und sie werden aus praktisch allen bekannten Spezies der Galaxis bestehen. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß zwischen ihnen keine Reibungen entstehen und sie am Ende als Team zusammenarbeiten. Dafür gibt es keine geschriebenen Regeln, aber meine Vorgesetzten sagten mir, ehe sie mich hierherschickten, daß man dazu einen guten praktischen Psychologen braucht, einen Mann mit viel gesundem Menschenverstand, einen Mann, der sich nicht davor scheut, auch einmal ein Risiko einzugehen. Ich glaube, ich brauche nicht zu betonen, daß zwei Psychologen noch besser wären…“ O’Mara hörte zwar zu, dachte aber hauptsächlich an dieses Grinsen Warings, das er gerade gesehen hatte. Das Baby und Waring waren jetzt in Ordnung, das wußte er, und in seinem augenblicklichen Hochgefühl der Freude konnte er niemand etwas abschlagen. Aber offenbar hatte der Major seinen Gesichtsausdruck falsch verstanden. „… verdammt, ich biete Ihnen einen Job an! Sie passen hierher, sehen Sie das nicht ein? Das ist ein Hospital, Mann, und Sie haben Ihren ersten Patienten geheilt…!“ 7 Einem riesigen mißgestalteten Weihnachtsbaum vergleichbar, blinkten die Lichter des Hospitals — Sektor zwölf — vor dem nebelhaften Hintergrund der Sterne. Lichter, die gelb, rot, orange und von weichem Grün waren, und wieder andere, deren grelles Blau beinahe unerträglich schien. Manche Stellen waren auch dunkel. Hinter diesen undurchsichtigen Metallflächen lagen Abteilungen, wo das Licht so durchdringend grell war, daß man die Augen anfliegender Raumpiloten davor schützen mußte oder Abteilungen, die so finster und kalt waren, daß nicht einmal das Licht, das von den Sternen hereindrang, die Augen ihrer Bewohner erreichen durfte. Für die Insassen des Telfi-Schiffes, das aus dem Hyperraum glitt und etwa zwanzig Meilen von diesem eigenartigen, mächtigen Gebilde entfernt im Raum schwebte, war diese Festbeleuchtung jedoch zu schwach, um ohne die Hilfe von Instrumenten wahrgenommen zu werden. Die Telfi waren Energie-Esser. Die Hülle ihres Schiffes flackerte in blauem, radioaktivem Schein, und das Innere war mit harter Strahlung erfüllt — was in jeder Beziehung normal war. Nur im Heck des kleinen Schiffes herrschten keine normalen Bedingungen. Hier lagen die aktiven Bestandteile eines Energiemeilers, verteilt auf kleine, subkritische und unabgeschirmte Massen im Maschinenraum des Schiffes herum. Und hier war es selbst für die Telfi zu heiß. Das Gruppenwesen, das gleichzeitig der Kapitän des Telfi-Raumschiffes — und seine Mannschaft — war, aktivierte seinen Kurzstreckeninterkom und sprach in jener klickenden und summenden Sprache, die man zum Verkehr mit jenen bedauernswerten Wesen benutzte, die außerstande waren, mit einer „Telfigestalt“ zu verschmelzen. „Das ist eine Telfi-Hundert-Einheiten-Gestalt“, sagte es langsam und deutlich. „Wir haben Verluste und benötigen Hilfe. Unsere Klassifikation ist VTXM, wiederhole VTXM…“ „Bitte Einzelheiten und Dringlichkeitsgrad“, sagte eine Stimme, als das Telfi gerade die Nachricht wiederholen wollte. Der Satz wurde in die gleiche Sprache übertragen, die der Kapitän benutzt hatte. Das Telfi gab schnell Einzelheiten an und wartete. Um es herum und teilweise es durchsetzend, wirkten hundert spezialisierte Einheiten, die gleichzeitig sein Geist und sein Körper waren. Einige der Einheiten waren blind, taub und vielleicht sogar tot, Zellen, die keinerlei Sinneseindrücke empfingen oder aufzeichneten. Aber dann gab es auch andere, die Wellen von solcher Todesqual ausstrahlten, daß das Gruppenwesen zuckte und sich wand. Würde denn diese Stimme nie antworten, fragten sie sich, und wenn ja, würde sie ihnen helfen können? „Sie dürfen sich dem Hospital nur bis höchstens auf fünf Meilen nähern“, sagte die Stimme plötzlich. „Sonst könnte durch Ihre Annäherung Strahlungsgefahr für weniger strahlungsresistente Wesen, als Sie es sind, entstehen.“ „Wir verstehen“, sagte das Telfi. „Gut“, sagte die Stimme. „Sie müssen auch bedenken, daß Ihre Rasse zu ›heiß‹ ist, als daß wir Sie direkt behandeln könnten. Es sind bereits ferngesteuerte Mechanismen zu Ihnen unterwegs, und es würde unsere Arbeit erleichtern, wenn Sie veranlaßten, daß Ihre Verletzten zur Hauptschleuse des Schiffes gebracht werden. Wenn das nicht möglich ist, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Uns stehen Apparate zur Verfügung, die Ihr Schiff betreten und die Verletzten entfernen können.“ Die Stimme schloß, indem sie sagte, man hoffe zwar, dem Patienten helfen zu können, sei jedoch im Augenblick nicht imstande, eine genaue Prognose abzugeben. Die Telfigestalt dachte, daß die Qualen, die ihren Geist und ihren weitverzweigten, vielgliedrigen Körper heimsuchten, bald vorüber sein würden — ebenso aber auch ein Viertel eben dieses Körpers! Mit jenem Glücksgefühl, das acht Stunden Schlaf, ein gutes Frühstück und die Aussicht auf eine interessante Arbeit erzeugen können, machte Conway sich auf den Weg zu seiner Station. Eigentlich war es natürlich nicht seine Station — wenn irgend etwas gefährlich zu werden drohte, erwartete man von ihm nur, daß er laut genug um Hilfe rief. Aber in Anbetracht der Tatsache, daß er erst seit zwei Monaten hier war, störte ihn das nicht, ebensowenig wie es ihn störte, daß noch eine lange Zeit vergehen würde, bis man ihm Fälle anvertrauen würde, bei denen die Behandlung über rein mechanische Methoden hinausging. Uneingeschränktes Wissen über die Physiologie einer beliebigen fremden Spezies ließ sich binnen Minuten mit einem Trainingsband erwerben, aber das Geschick, dieses Wissen entsprechend zu verwenden — speziell in der Chirurgie — kam erst mit der Zeit. In einem Seitenkorridor sah Conway einen FGLI, den er kannte — einen tralthanischen Internisten, der seinen elefantenartigen Körper auf sechs schwammigen Füßen vorwärts bewegte. Die kurzen Beine schienen noch gummiartiger als gewöhnlich, und der kleine OTSB, der in Symbiose mit dem Tralthaner lebte, schlief praktisch. Conway sagte freundlich: „Guten Morgen“, und erhielt die übersetzte und daher notwendigerweise völlig gefühllose Antwort: „Du kannst mich gern haben.“ Conway grinste. Im Empfang war gestern abend viel zu tun gewesen. Conway war nicht aufgerufen worden, aber es schien, als hätte der Tralthaner mindestens zwölf Stunden durchgearbeitet. Ein paar Meter hinter dem Tralthaner begegnete er einem zweiten, der langsam neben einem kleinen DBGD, wie er selbst einer war, herging. Nicht ganz wie er selbst, freilich — DBGD war die Gruppenklassifikation, die den körperlichen Attributen, der Zahl der Arme, Köpfe, Beine und so weiter ihren Platz zuwies. Der Umstand, daß das Wesen siebenfingrige Hände besaß, nur einen Meter zwanzig groß war und wie ein Teddybär aussah — Conway hatte das Heimatsystem des Wesens vergessen, erinnerte sich aber, daß es von einer Welt kam, die plötzlich eine Eiszeit erlebt hatte, weshalb seine höchste Lebensform gleichzeitig Intelligenz und einen dicken roten Pelz entwickelt hatte —, zeigte sich erst, wenn man die Klassifikation auf zwei oder drei Gruppen ausdehnte. Der DBGD hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und starrte geistesabwesend zu Boden. Sein riesiger Begleiter schien ähnlich konzentriert, zog aber die Decke vor, was auf die völlig verschiedenartige Lage der Sehorgane zurückzuführen war. Beide trugen ihre Berufsinsignien an goldenen Armbändern, und das bedeutete, daß es sich um hochqualifizierte Diagnostiker handelte. Conway verzichtete darauf, guten Morgen zu sagen und achtete sogar darauf, beim Vorübergehen nicht unnötig laut aufzutreten. Vielleicht waren die beiden in ein medizinisches Problem vertieft, dachte Conway, oder — was ebenso wahrscheinlich war — sie hatten sich gerade gestritten und ignorierten einander deshalb. Diagnostiker waren eigenartige Leute. Man konnte nicht gerade sagen, daß sie von Haus aus verrückt waren, aber ihr Beruf zwang ihnen eine Art von Verrücktheit geradezu auf. An jeder Korridorkreuzung hatten Lautsprecher ein unverständliches, fremdes Kauderwelsch ausgestrahlt, das er im Vorübergehen nur halb gehört hatte, aber als die Lautsprecher plötzlich auf Terraenglisch umschalteten und Conway seinen eigenen Namen hörte, blieb er überrascht stehen. „… sofort zu Einlaßschleuse zwölf“, wiederholte die Stimme monoton. „Klassifikation VTXM-23. Doktor Conway, bitte gehen Sie zu Einlaßschleuse zwölf. Klassifikation VTXM-23…“ Conways erster Gedanke war, daß sie unmöglich ihn meinen konnten. Das sah ja aus, als ziehe man ihn zu einem Fall heran — sogar einem großen, denn die Zahl 23 nach der Klassifikation bezog sich auf die Anzahl der zu behandelnden Patienten. Und diese Klassifikation, VTXM, war ihm völlig neu. Conway wußte natürlich, was die Buchstaben bedeuteten, aber er hatte nie gedacht, daß sie in dieser Kombination existieren konnten. Es mußte sich um irgendeine telepathische Spezies handeln — das V an erster Stelle der Klassifikation sagt aus, daß Telepathie ihr wichtigstes Attribut war und ihr Körperbau nur von sekundärer Bedeutung — ferner ging aus der Klassifikation hervor, daß diese Spezies Strahlungsenergie direkt umzuwandeln vermochte und gewöhnlich als eng zusammenhängende Gruppe, oder, wie der Psychologe das nannte, „Gestalt“, existierte. Während er noch überlegte, ob er einem derartigen Fall gewachsen war, hatte er sich bereits umgedreht und eilte auf Schleuse zwölf zu. Seine Patienten erwarteten ihn in der Schleuse. Sie befanden sich in einem kleinen Metallkasten, der ringsum mit Bleibarren bedeckt war und bereits auf einem Rollwagen ruhte. Der Wärter unterrichtete Conway kurz davon, daß die Wesen sich „das Telfi“ nannten und daß eine erste Diagnose es geraten erscheinen lasse, sie in den Strahlungsoperationssaal zu bringen, der bereits für ihn vorbereitet wurde. Infolge der geringen Größe seiner Patienten könne er im übrigen dadurch Zeit einsparen, indem er mit ihnen zum Trainingssaal gehe und sie vor der Tür abstelle, während er sein Telfi-Trainingsband nahm. Conway bedankte sich mit einem Nicken, sprang auf den Wagen und setzte ihn in Bewegung, wobei er bemüht war, den Eindruck zu erwecken, daß er so etwas jeden Tag tue. Als Conway den Trainingsraum betrat, fand er dort einen Monitor vor. Conway hatte für das Monitor-Korps nicht viel übrig. Er wußte natürlich, daß es Leute gab, die manchmal durchdrehten und daß es dann jemand geben mußte, der das Nötige unternahm, um für die Erhaltung des Friedens zu sorgen. Aber er verabscheute jede Art von Gewaltanwendung so sehr, daß er es einfach nicht über sich brachte, die Menschen, die diese notwendigen Schritte unternahmen, auch leiden zu können. Und was hatte ein Monitor außerdem in einem Hospital zu suchen? Die Gestalt im dunkelgrünen Overall wandte sich um, als er eintrat, und Conway bekam seinen zweiten Schock. Der Monitor trug nicht nur die Rangabzeichen eines Majors auf der Schulter, sondern auch den Äskulapstab des Arztes! „Mein Name ist O’Mara“, sagte der Major mit angenehmer Stimme. „Ich bin Chefpsychologe dieses Irrenhauses. Und Sie, nehme ich an, sind Dr. Conway.“ Er lächelte. Conway zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, wußte aber, daß es gezwungen aussah und daß der andere dies wußte. „Sie wollen das Telfiband“, sagte O’Mara eine Spur weniger freundlich. „Nun, Doktor, da haben Sie sich diesmal ja etwas Hübsches ausgesucht. Lassen Sie es nur schleunigst wieder löschen, wenn Sie mit dem Fall fertig sind — Sie können mir glauben, das wollen Sie bestimmt nicht behalten. Geben Sie mir hier Ihren Daumenabdruck, und setzen Sie sich dann dort hinüber.“ Während die Elektroden an die Schläfenkontakte des Trainers angeschlossen wurden, war Conway bemüht, eine starre, undurchdringliche Miene zu bewahren und nicht jedesmal zusammenzuzucken, wenn die Hände des Majors ihn berührten. O’Maras Haar war kurz geschnitten und von metallischgrauer Farbe, und auch seine Augen erinnerten an blauen Stahl. „So, das wär’s“, sagte O’Mara, als alles vorüber war. „Aber ich glaube, Doktor, daß wir beide einen kleinen Schwatz halten sollten; nennen wir es ruhig ein Orientierungsgespräch. Aber nicht jetzt. Sie haben zu tun — nachher.“ Conway spürte, wie die stahlblauen Augen sich in seinen Rücken bohrten, als er hinausging. Er hätte sich jetzt bemühen müssen, seinen Geist zu entspannen, damit das neu eingeprägte Wissen sich „setzen“ konnte, aber Conway konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, daß ein Monitor ein Mitglied von hohem Rang des permanenten Hospitalstabes war — und Arzt obendrein. Wie ließen sich die beiden Berufe vereinen? Conway dachte an das Armband, das er trug, das Armband mit dem schwarzroten tralthanischen Kreis, der flammenden Sonne der chloratmenden Illensa und den Stab mit der Schlange von der Erde — die geehrten Symbole der Medizin der drei Hauptrassen der galaktischen Union. Und da war jetzt dieser Dr. O’Mara, dessen Kragenspiegel behauptete, daß er ein Heiler sei und dessen Epauletten sagten, daß er etwas anderes war. Eines stand fest: Conway würde erst dann wieder ganz beruhigt sein, wenn er herausgefunden hatte, weshalb der Chefpsychologe des Hospitals ein Monitor war. 8 Das war die erste Erfahrung, die Conway mit einem Physiologieband einer fremden Rasse machte, und er konstatierte voll Interesse, daß er plötzlich in geistiger Hinsicht „doppelt zu sehen“ begann — ein sicheres Zeichen dafür, daß das Band „saß“. Als er den OP-Saal erreichte, fühlte er sich wie zwei Menschen in einem — ein Erdmensch namens Conway und die große, aus fünfhundert Einheiten bestehende Telfigestalt, die sich gebildet hatte, um eine komplette Aufzeichnung allen bekannten Wissens über die Physiologie dieser Rasse zu ermöglichen. Das war der einzige Nachteil — wenn man es als Nachteil ansehen wollte — des Trainingsbandsystems. Dem Geist der Person, die sich dem „Training“ unterzog, wurde nämlich nicht nur Wissen eingeprägt, sondern es übertrugen sich gleichzeitig auch die Persönlichkeiten der Wesen, die dieses Wissen besessen hatten. Kein Wunder also, daß die Diagnostiker, die bis zu zehn verschiedene Bänder aufgenommen hatten, manchmal etwas eigenartig waren. Ein Diagnostiker hatte die wichtigste Aufgabe im Hospital, dachte Conway, als er den Strahlungspanzer anlegte und seine Patienten für die Voruntersuchung vorbereitete. Er hatte manchmal in Augenblicken einer hohen Meinung von sich selbst daran gedacht, einer zu werden. Ihr Hauptzweck war, Grundlagenarbeit in der xenologischen Medizin und Chirurgie zu leisten und sich um Fälle zu kümmern, für die es keine Physiologiebänder gab. Sich einfacher, alltäglicher Verletzungen und Krankheiten anzunehmen, lag weit unter ihrer Würde. Um zu rechtfertigen, daß ein Diagnostiker sich einen Patienten ansah, mußte dieser Patient einzigartig, hoffnungslos und wenigstens zu drei Viertel tot sein. Aber wenn einer einen Fall übernahm, war der Patient so gut wie kuriert — Diagnostiker waren dafür bekannt, daß sie mit beinahe monoton wirkender Regelmäßigkeit Wunder verrichteten. Bei den niedrigeren Rängen der Ärzte gab es immer die Versuchung, das wußte Conway, den Inhalt eines Bandes zu behalten, anstatt ihn löschen zu lassen, in der Hoffnung, irgendeine grundlegende Entdeckung zu machen, die großen Ruhm einbrachte. Bei praktisch veranlagten, vernünftigen Männern wie er einer war, blieb es freilich bei der Versuchung. Conway sah seine winzigen Patienten nicht. Sie individuell zu untersuchen, war unmöglich, es sei denn, er unterzog sich einer Unmenge unnötiger Mühen mit Spiegeln und Bleiplatten und Mikroskopansätzen. Trotzdem kannte er seine Patienten — innerlich sowohl wie äußerlich — denn das Trainingsband hatte ihn praktisch zu einem von ihnen gemacht. Dieses Wissen, verbunden mit den Ergebnissen seiner Untersuchung, reichte Conway für den Beginn der Behandlung völlig aus. Seine Patienten waren Teil einer Telfigestalt gewesen, die einen interstellaren Kreuzer bedienten. Einer der Energiemeiler war durchgegangen. Die kleinen, käferartigen und — individuell — sehr dummen Wesen waren Strahlungs-Esser, aber diese Explosion war selbst für sie zuviel gewesen. Ihr augenblickliches Gebrechen ließ sich am besten mit einem äußerst schwerwiegenden Fall von Überfütterung, verbunden mit einer verlängerten Überreizung ihrer Sinnesorgane, besonders der Schmerzzentren, vergleichen. Wenn er sie einfach in einem abgeschirmten Behälter ließ und sie, was Strahlung betraf, praktisch aushungerte — eine Behandlungsweise, die auf ihrem hochradioaktiven Schiff unmöglich war —, konnte man damit rechnen, daß etwa siebzig Prozent von ihnen sich im Laufe von ein paar Stunden selbst kurierten. Diese siebzig Prozent würden Glück haben, und Conway konnte sogar sagen, wer von ihnen zu dieser Kategorie gehörte. Für den Rest dagegen würde das eine Tragödie sein, denn selbst wenn sie nicht den physischen Tod erleiden sollten, würde ihr Schicksal noch viel schlimmer sein: sie würden die Fähigkeit verlieren, sich dem Gruppengeist anzuschließen, und das war für ein Telfi gleichbedeutend mit einem Krüppeldasein. Nur jemand, der den Geist und die Persönlichkeit und die Instinkte eines Telfi teilte, konnte diese Tragödie als das ansehen, was sie war. Es war besonders bedauerlich, da die Krankengeschichte, die Conway vom Schiffsarzt erhalten hatte, verriet, daß gerade diese Individuen es waren, die während der Strahlungsexplosion aktiv geblieben waren, um ihr Schiff vor der völligen Vernichtung zu retten. Jetzt hatte ihr Organismus sich auf die Aufnahme der dreifachen Energiemenge eingestellt, die ein Telfi normalerweise brauchte. Wenn diese Energieaufnahme für längere Zeit unterbrochen wurde, würden die Verbindungszentren ihres Gehirns leiden. Behielt man andererseits die erhöhte Energiezufuhr bei, würden sie binnen einer Woche praktisch ausbrennen. Aber es gab eine Behandlungsweise, mit der diesen Unglücklichen geholfen werden konnte. Als Conway seine Geräte für diese Therapie vorbereitete, dachte er, daß diese Behandlung eigentlich alles andere als zufriedenstellend war — sie war riskant und war einzig und allein eine Frage kalter, medizinischer Statistik, die er durch nichts beeinflussen konnte. Er kam sich vor wie ein Mechaniker. Binnen kurzem hatte er sich davon überzeugt, daß sechzehn seiner Patienten an dem telfischen Äquivalent einer Verdauungsstörung litten. Er sonderte diese sechzehn in abgeschirmten, absorbierenden Flaschen ab, damit die Ausstrahlung ihrer immer noch „heißen“ Körper nicht den „Aushungerungsprozeß“ verlangsamte. Die Flaschen stellte er in einen kleinen Meilerofen, der so eingestellt wurde, daß er den für Telfi normalen Strahlungspegel abgab. Ein Relais sorgte dafür, daß die Abschirmung abfiel, sobald die überschüssige Radioaktivität aufgezehrt war. Die restlichen sieben brauchten eine Sonderbehandlung. Er hatte sie in einen anderen Meiler gesteckt und drehte gerade an einem Stellrad, um die Bedingungen so genau wie möglich wiederherzustellen, die während des Unfalls in ihrem Schiff geherrscht hatten, als der Interkom an der Wand zu summen begann. Conway führte die letzte Schaltung aus, überprüfte sie und sagte dann: „Ja?“ „Hier Funkzentrale, Dr. Conway. Uns liegt ein Signal des Telfischiffes vor. Das Telfi will über die Kranken Nachricht haben. Können Sie schon etwas sagen?“ Conway wußte, daß seine Auskunft nicht schlecht war, wünschte aber, er könnte eine bessere geben. Das Auseinanderreißen einer Telfigestalt war für die davon betroffenen Einzelwesen nur einem Todestrauma vergleichbar, und Conway fühlte im Augenblick wie ein Telfi. „Sechzehn von ihnen sind etwa in vier Stunden praktisch völlig wiederhergestellt. Die anderen sieben werden leider zu fünfzig Prozent ausfallen, aber welche es genau betreffen wird, werden wir erst in ein paar Tagen wissen. Im Augenblick stecken sie in einem Meiler bei doppelter Strahlung, die ich langsam auf das Normalmaß zurücksetzen werde. Die Hälfte von ihnen sollte es überstehen. Haben Sie verstanden?“ „Ja.“ Nach ein paar Minuten meldete sich die Stimme wieder. „Das Telfi sagt, es sei gut, und vielen Dank. Ende.“ Eigentlich hätte er sich darüber freuen müssen, daß er seinen ersten Fall erfolgreich gelöst hatte, aber Conway empfand tiefe Niedergeschlagenheit. Jetzt, wo alles vorüber war, empfand er eine eigenartige Verwirrung. Er mußte immer wieder daran denken, daß fünfzig Prozent von sieben dreieinhalb war. Was würde aber mit dem halben Telfi werden? Er hoffte, daß vier anstatt drei durchkamen und daß sie nicht in geistiger Hinsicht Krüppel sein würden. Er dachte, daß es schön sein mußte, ein Telfi zu sein und die ganze Zeit Strahlung aufzusaugen und die zahlreichen und verschiedenartigen Eindrücke, wie sie nur ein Sammelwesen aus vielleicht Hunderten von Individuen empfand. Wenn er so dachte, kam ihm sein eigener Körper irgendwie kalt und einsam vor. Es kostete ihn Überwindung, die Wärme des Strahlungs-OP-Saales zu verlassen. Draußen stieg er auf den Wagen und steuerte ihn zur Einlaßschleuse zurück. Vorschriftsmäßig müßte er jetzt zum Trainingsraum gehen und das Telfiband löschen lassen — er hatte auch eine entsprechende Anweisung erhalten. Aber er wollte nicht gehen; der Gedanke an O’Mara beunruhigte, ja, ängstigte ihn. Conway wußte, daß er immer so empfand, wenn es sich um Angehörige des Monitor-Korps handelte, aber diesmal war es anders. Da war dieser kleine „Schwatz“, wie O’Mara es genannt hatte. Conway war sich ganz klein vorgekommen, gerade, als wäre der Monitor irgendwie sein Vorgesetzter, und Conway konnte sich wirklich nicht vorstellen, wie man sich vor einem Monitor klein vorkommen konnte! Conway beschloß, zuerst seine Station zu besuchen und erst dann zum Trainingsraum zu gehen. Das war eine stichhaltige Begründung, falls O’Mara ihn wegen der Verzögerung befragen sollte, und vielleicht wurde der Chefpsychologe in der Zwischenzeit abgerufen. Wenigstens hoffte Conway das. Als erstes besuchte er einen AUGL von Chalderescol 2, den einzigen Insassen der für diese Spezies reservierten Station. Conway legte entsprechende Schutzkleidung an — in diesem Fall einen ganz gewöhnlichen Taucheranzug — und trat durch die Schleuse in den Tank grünen lauwarmen Wassers, der die gewohnte Umgebung dieses Wesens reproduzierte. Er holte sich aus dem Schrank hinter der Schleuse seine Instrumente und kündete dann seinen Besuch an. Wenn der Chaldor wirklich dort unten schlief und er ihn erschreckte, konnte das ernste Folgen haben. Eine zufällige Berührung mit diesem Schweif, und die Station würde zwei statt eines Patienten haben. Der Chaldor hatte dicke Panzerplatten und Schuppen und erinnerte entfernt an ein zwölf Meter langes Krokodil, wenn man davon absah, daß er anstatt Beine eine anscheinend regellose Anordnung von Finnen und einen Kranz bandartiger Tentakel besaß, die an der Mitte seines Körpers angeordnet waren. Er schwebte apathisch in der Nähe des Bodens des großen Tanks, und das einzige Lebenszeichen, das der Chaldor von sich gab, war, daß das Wasser in der Nähe seiner Kiemen sich in periodischen Abständen verdunkelte. Conway untersuchte den Patienten flüchtig — die Sache mit dem Telfi hatte ihn viel Zeit gekostet — und stellte die übliche Frage. Die Antwort erreichte Conway auf einem ihm unverständlichen Weg durch das Wasser über seine Translatoranlage und schließlich seine Kopfhörer. „Ich bin schwer krank“, sagte der Chaldor. „Ich habe Schmerzen.“ Du lügst, dachte Conway. Dr. Lister, der Direktor von Sektor 12 und wahrscheinlich der beste Diagnostiker seiner Zeit, hatte diesen Chaldor praktisch Stück für Stück zerlegt. Die Diagnose hatte auf Hypochondrie in einem unheilbaren Stadium gelautet. Der Diagnostiker hatte ferner ausgeführt, daß die Überlastungserscheinungen im Schuppenpanzer des Patienten und die Schmerzen, die er anscheinend an diesen Stellen gelegentlich empfand, nur auf die Faulheit und Gefräßigkeit des Wesens zurückzuführen waren. Jedermann wußte, daß ein Lebewesen mit einem Exoskelett nur von innen heraus zunehmen konnte! Und Diagnostiker waren nicht gerade wegen ihrer zarten Ausdrucksweise berühmt. Der Chaldor wurde nur dann wirklich krank, wenn Gefahr bestand, daß man ihn nach Hause schickte, und so hatte das Hospital einen Dauerpatienten bekommen. Aber das störte niemand. Die Ärzte vom regulären Stab hatten ihn ebenso wie zu Besuch in der Station weilende Ärzte gründlich untersucht und setzten diese Untersuchungen auch periodisch fort; ebenso sämtliche Internisten und Pfleger all der vielen Rassen, die im Personal des Hospitals vertreten waren. So wurde der Chaldor dauernd beschäftigt und von jungen Medizinstudenten als wertvolles Anschauungsobjekt benutzt, und beide Teile waren zufrieden. Niemand erwähnte heutzutage dem Chaldor gegenüber noch je den Gedanken der Entlassung. 9 Conway wartete einen Augenblick, als er zur Schleuse des großen Tanks schwamm; er empfand ein eigenartiges Gefühl. Sein nächster Besuch sollte zwei methanatmenden Lebewesen in der Kälteabteilung seiner Station gelten, und er empfand nicht die geringste Lust, diesen Besuch abzustatten. Trotz der Wärme des Wassers und der Anstrengung, die ihn das Schwimmen gekostet hatte, empfand er Kälte und kam sich vom Rest der Menschheit abgeschnitten vor. Dieses Gefühl war so stark, daß es ihn beunruhigte. Er mußte dringend mit einem Psychologen sprechen, wenn auch nicht notwendigerweise mit O’Mara. Die Anlage des Hospitals in dieser Abteilung erinnerte an einen Berg Spaghetti — gerade, abgebogene und unbeschreiblich ineinander Verdrehte Spaghetti. Parallel zu jedem Korridor mit einer Atmosphäre vom Terratyp zum Beispiel, verliefen andere Korridore mit andersartigen und gegenseitig tödlich wirkenden Variationen von Atmosphäre, Druck und Temperatur. Auf diese Weise wurde gewährleistet, daß Patienten jeder beliebigen Spezies von Ärzten ebenfalls jeder beliebigen Spezies auf dem schnellsten Wege besucht werden konnten, da es ebenso unbequem wie zeitraubend war, wenn ein Arzt mit einem Anzug, der ihn vor der Umgebung seines Patienten schützen sollte, durch den ganzen Korridor eilte. Es hatte sich als viel zweckmäßiger erwiesen, jeweils außerhalb der Station den nötigen Schutzanzug anzulegen, wie Conway es getan hatte. Conway erinnerte sich an die Geographie dieses Abschnittes und wußte, daß es eine Wegabkürzung gab, um zu seinen fischblütigen Freunden zu kommen — und zwar durch den mit Wasser gefüllten Korridor, der zum Chaldoroperationssaal führte, von dort durch die Schleuse in die Chloratmosphäre der illensanischen PVSJs und dann zwei Stockwerke hinauf. Auf diese Weise konnte er etwas länger im warmen Wasser bleiben. Und er fror wirklich. Ein PVSJ-Rekonvaleszent huschte in der Chlorabteilung auf seidenfeinen Membranen an ihm vorbei, und Conway verspürte den dringenden Wunsch, ein paar nichtssagende Worte mit den Wesen zu wechseln. Er mußte sich zwingen, um weiterzugehen. Den Schutzanzug, den DBGDs wie er bei Besuchen in der Methanabteilung trugen, war in Wirklichkeit ein kleiner Tank. Er besaß Heizgeräte im Innern, um seinen Insassen am Leben zu erhalten, und Kühlanlagen außen, damit durchdringende Wärme nicht Patienten vor Hitze verdorren ließ, für die der geringste Hauch von strahlender Wärme — ja sogar Licht — tödlich war. Conway hatte keine Ahnung, wie das TV-Gerät, das er bei diesen Untersuchungen benutzte, funktionierte — das wußten eben nur diese Bastlerseelen mit den Ingenieurarmbändern. Conway schaltete die Heizung in die Höhe, bis ihm der Schweiß von der Stirn rann — und trotzdem fror er. Plötzlich hatte er Angst. Wie, wenn er sich irgendeine Infektion zugezogen hatte? Als er wieder in seiner eigenen Atmosphäre war, blickte er auf die winzige Skala, die man auf operativem Wege an seinem Unterarm angebracht hatte. Sein Puls, seine Atmung und sein Blutzuckerspiegel waren normal, wenn man von kleinen Unregelmäßigkeiten absah, die auf seine eigene Unruhe zurückzuführen waren. Auch in seinem Blutstrom befand sich kein Fremdkörper. Was stimmte also mit ihm nicht? Conway beendete seine Runden so schnell wie möglich. Wieder war er verwirrt. Es mußte mit dem Telfiband zu tun haben. O’Mara hatte etwas darüber gesagt, aber er konnte sich im Augenblick nicht mehr genau daran erinnern. Doch er würde jetzt gleich zum Trainingsraum gehen, ob nun O’Mara dort war oder nicht. Unterwegs begegneten ihm zwei Monitore. Beide waren bewaffnet. Conway wußte, daß er ihnen gegenüber seine traditionelle Abneigung empfinden sollte und auch Empörung darüber, daß sie im Innern eines Hospitals bewaffnet herumliefen, aber gleichzeitig hätte er sie am liebsten umarmt. Er wollte Leute um sich haben, wollte reden, um sich nicht so furchtbar einsam zu fühlen. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm waren, brachte er ein schwaches Lächeln zuwege und grüßte. Es war das erstemal in seinem Leben, daß er einen Monitor angesprochen hatte. Einer der beiden lächelte, der andere nickte nur. Beide sahen ihn eigenartig über die Schulter an, denn seine Zähne klapperten so, daß man es merkte. Sein Wunsch, zum Trainingsraum zu gehen, war ganz deutlich ausgeprägt gewesen, aber jetzt gefiel ihm dieser Gedanke nicht mehr so besonders. Dort war es kalt und finster, und O’Mara war vielleicht die einzige Gesellschaft, die er haben würde. Aber Conway wollte sich in einer Menschenmenge verlieren, je größer sie war, um so besser. Er dachte an den nächstliegenden Speisesaal und steuerte unwillkürlich darauf zu. Dann sah er auf einer Kreuzung ein Zeichen mit der Aufschrift „Diätküche, Station 52–68, Spezies DBGD, DBLF und FGL“. Das erinnerte ihn wieder daran, wie gräßlich er fror. Die Diätküche war zu beschäftigt, um auf ihn zu achten. Conway suchte einen Ofen, der vor Hitze beinahe glühte, und legte sich darüber, so daß die bazillentötenden UV-Strahlen, die den ganzen Raum erfüllten, ihn badeten. Den verkohlten Geruch, der von seiner leichten Kleidung ausging, beachtete er nicht. Jetzt fühlte er sich wärmer, etwas wärmer, aber das furchtbare Gefühl, völlig allein zu sein, ließ ihn nicht los. Er war abgeschnitten, ungeliebt, und niemand wollte ihn. Er wünschte, er wäre nie geboren worden. Als ein Monitor — einer der beiden, denen er auf dem Korridor begegnet war und dessen Neugierde durch Conways eigenartiges Benehmen geweckt worden war — ihn ein paar Minuten später holte, rannen Conway große Tränen über das Gesicht. „Sie sind ein sehr dummer junger Mann, der viel Glück gehabt hat“, sagte eine Stimme, an die er sich deutlich erinnerte. Conway schlug die Augen auf und stellte fest, daß er sich auf der „Lösch“-Couch befand und daß O’Mara und ein zweiter Monitor auf ihn hinabblickten. Sein Rücken fühlte sich an, als hätte jemand ihn gebraten, und sein ganzer Körper schmerzte wie nach einem schweren Sonnenbrand. O’Mara funkelte ihn wütend an und fuhr dann fort: „Glück deshalb, weil Sie keine ernsten Verbrennungen bekommen und das Augenlicht nicht verloren haben, und dumm, weil Sie vergessen haben, mir etwas sehr Wichtiges zu sagen, nämlich, daß das Ihre erste Erfahrung mit einem Trainingsband war…“ Jetzt klang in O’Maras Stimme eine leichte Selbstanklage mit. Er fuhr fort, indem er sagte, er hätte Conway eine hypnotische Behandlung gegeben, um ihm eine bessere Unterscheidung zwischen seinen eigenen Bedürfnissen und denen der Telfi in seinem Geist zu ermöglichen. Ihm war erst dann bewußt geworden, daß dies Conways erstes Band war, als er die Quittung mit dem Daumenabdruck zu den Akten gelegt hatte — verdammt, wie sollte er denn wissen, wer neu war und wer nicht. Und außerdem, wenn Conway mehr an seine Arbeit und weniger an den Umstand gedacht hätte, daß ein Monitor ihm das Band gab, wäre das alles nie passiert. Conway, meinte O’Mara mit beißender Ironie, sei wohl ein eingebildeter und überheblicher Narr, der nicht einmal versuchte, seine Abneigung gegen so unzivilisierte Wesen der menschlichen Rasse wie ein Monitor es sei, zu verbergen. Wie ein Wesen mit genügend Intelligenz, die es besitzen mußte, um in diesem Hospital aufgenommen zu werden, so empfinden konnte, überstieg O’Maras Begriffsvermögen. Conway spürte, wie sein Gesicht brannte. Es war dumm gewesen, den Psychologen nicht darauf aufmerksam zu machen, daß das sein erstes Band war. O’Mara konnte leicht Anklage wegen Pflichtverletzung gegen ihn vorbringen — eine Anklage, die beinahe so ernst genommen wurde wie Ungeschick im Umgang mit Patienten — und man würde Conway entlassen. Aber diese Möglichkeit beeindruckte ihn im Augenblick nicht so sehr wie der Umstand, daß ein Monitor, und noch dazu vor einem zweiten Monitor, ihm eine Rüge erteilte! Der Mann, der ihn getragen haben mußte, blickte auf ihn herab, und in seinen braunen Augen leuchtete so etwas wie freundliche Sorge. Conway empfand O’Maras Tadel noch schlimmer. Wie konnte ein Monitor es wagen, für ihn Besorgnis zu empfinden! „… und wenn Sie immer noch nicht wissen, was passiert ist“, sagte O’Mara mit schneidender Stimme, „… Sie haben — wie ich zugebe, aus mangelnder Erfahrung — zugelassen, daß die Telfipersönlichkeit aus dem Band eine Zeitlang Ihre eigene Persönlichkeit in den Hintergrund gedrückt hat. Ihr Bedarf für harte Strahlung, intensive Hitze und in erster Linie das geistige Verschmelzen, wie ein Gruppengeist es braucht, wurde für Sie eine Notwendigkeit — natürlich übertragen auf das nächste menschliche Äquivalent. Eine Weile empfanden Sie das Leben so wie ein einzelnes Telfiwesen, ein individuelles Telfi, das, abgeschnitten von allem geistigen Kontakt mit den anderen Mitgliedern seiner Gruppe, eben wirklich ein armer Teufel ist.“ O’Maras Stimme klang jetzt schon etwas freundlicher. „Sie sind praktisch mit einem ziemlich kräftigen Sonnenbrand davongekommen. Ihr Rücken wird eine Weile weh tun und später anfangen zu jucken. Geschieht Ihnen recht. Und jetzt verschwinden Sie. Ich will Sie vor neun Uhr früh übermorgen nicht mehr sehen. Halten Sie sich diesen Termin frei. Das ist ein Befehl. Wir haben noch ein kleines Gespräch zu führen, Sie erinnern sich doch?“ Draußen im Korridor überkam Conway ein Gefühl völliger Niedergeschlagenheit, gleichzeitig aber war er ärgerlich, denn in den dreiundzwanzig Jahren seines Lebens hatte er noch keine solche Demütigung erlebt. Man hatte ihn behandelt wie einen schlecht erzogenen kleinen Jungen. Und Conway war immer ein sehr gut erzogener kleiner Junge gewesen. Das tat weh. Er hatte nicht bemerkt, daß jemand neben ihm ging, bis der Mann ihn ansprach. „Machen Sie sich wegen des Majors keine Gedanken“, sagte der Monitor mitfühlend. „Im Grunde ist er ein netter Kerl — das werden Sie selbst noch herausfinden, wenn Sie das nächste Mal mit ihm sprechen. Im Augenblick ist er müde und etwas gereizt. Wissen Sie, es sind gerade drei Kompanien eingetroffen, und mehr kommen nach. Aber in ihrem augenblicklichen Zustand nützen sie uns nicht viel — sie sind alle kampfmüde. Major O’Mara und seine Leute müssen…“ „Kampfmüde“, sagte Conway in dem arrogantesten Ton, zu dem er fähig war. Im Augenblick hatte er es einfach satt, daß Leute, die er als geistig weit unter sich stehend betrachtete, ihn entweder beschimpften oder Sympathie für ihn empfanden. „Ich nehme an“, fügte er hinzu, „das bedeutet, daß sie müde geworden sind, Menschen zu töten?“ Er sah, wie das Gesicht des Monitors sich verkrampfte. In seinen Augen flackerte es. Man sah dem Monitor an, daß er am liebsten Conway angebrüllt hätte, aber dann besann er sich eines Besseren. Er sagte nur ganz ruhig: „Für jemand, der schon seit zwei Monaten hier ist, haben Sie, gelinde ausgedrückt, eine recht unrealistische Anschauung vom Monitor-Korps. Ich verstehe das nicht. Hatten Sie keine Zeit, mit anderen Leuten zu reden?“ „Nein“, erwiderte Conway kühl, „wo ich herkomme, redet man nicht über Personen Ihrer Art, man zieht angenehmere Gesprächsthemen vor.“ „Ich hoffe“, sagte der Monitor, „daß alle Ihre Freunde — wenn Sie überhaupt Freunde haben — von der Art sind, die einem auf den Rücken schlägt.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon. Conway zuckte unwillkürlich bei dem Gedanken zusammen, es könnte etwas, das schwerer ist als eine Feder war, seinen verbrannten, mit Blasen überzogenen Rücken berühren. Dann mußte er wieder an das denken, was der andere gesagt hatte. Seine Haltung gegenüber dem Monitor-Korps war also unrealistisch? Sollte er etwa Verständnis empfinden für Gewalttat und Mord und gut Freund mit denen sein, die solche Greueltaten verrichteten? Und dann hatte der Mann die Ankunft einiger Kompanien erwähnt. Warum? Irgend etwas überstieg hier seinen Horizont. Als er in Sektor 12 eingetroffen war, hatte das Wesen, das Conway seine ersten Instruktionen gegeben hatte, eine kleine Aufmunterungsansprache gehalten. Es hatte gesagt, daß Dr. Conway viele Tests bestanden hätte, um hierherzukommen und daß man ihn willkommen heiße und hoffe, daß seine Arbeit ihm Freude bereiten würde. Seine Probezeit sei jetzt vorüber, und er solle versuchen, mit möglichst vielen Wesen in der Station Freund zu werden. Schließlich hatte man ihm gesagt, er solle, wenn er aus irgendeinem Grund, sei es Unwissenheit oder was auch immer, Schwierigkeiten haben sollte, mit einem von zwei Erdmenschen sprechen, die O’Mara und Bryson hießen. Unmittelbar darauf hatte man ihn dem leitenden Arzt seiner Station vorgestellt, einem sehr fähigen Erdmenschen namens Mannon. Dr. Mannon war noch nicht Diagnostiker, wenn er sich auch sehr darum bemühte, und war deshalb einen verhältnismäßig großen Teil des Tages über recht menschlich. Er war der stolze Besitzer eines Hündchens, das keinen Zoll breit von ihm wich, so daß extra-terrestrische Besucher oft an Symbiose dachten. Conway konnte Dr. Mannon sehr gut leiden, aber in diesem Augenblick wurde ihm klar, daß sein Vorgesetzter das einzige Wesen seiner eigenen Spezies war, für das er ein Gefühl der Freundschaft empfand. Es war eigentlich seltsam. Conway fing an, sich über sich selbst Gedanken zu machen. Nach dieser würdevollen Ansprache hatte Conway gedacht, nun sei alles gut — besonders, nachdem er feststellte, wie leicht es war, sich mit den ETs unter seinen Kollegen anzufreunden. Zu seinen menschlichen Kollegen hatte er nicht so leicht Kontakt gefunden — mit Ausnahme von Mannon —, weil diese meistens recht zynische und oberflächliche Ansichten über ihre so wichtige Arbeit hatten. Und dann hatte O’Mara ihn derart erniedrigt und Intoleranz vorgeworfen. Conway wußte, daß er das nicht lange aushalten würde. Er war ein zivilisiertes und ethisches Wesen — weshalb erlaubte man also dem Monitor-Korps, ihn zu peinigen? Conway verstand das einfach nicht. 10 Plötzlich wurde ihm der Name Bryson bewußt. Es war einer der Namen, die man ihm genannt hatte. O’Mara war der eine, und dieser Bryson… Conway hatte noch niemand dieses Namens kennengelernt, und ein vorübergehender Tralthaner gab ihm entsprechend Auskunft. Conway kam nur bis zu der Tür mit der Aufschrift „Captain Bryson, Monitor-Korps, Kaplan“ und wandte sich sofort wieder wütend ab. Noch ein Monitor! Jetzt gab es nur noch eine Person, die ihm helfen konnte: Dr. Mannon. Den hätte er zuerst aufsuchen sollen. Aber als Conway schließlich seinen Vorgesetzten fand, war dieser im LSVO-Operationssaal, wo er einem tralthanischen Diagnostiker-Chirurgen bei einer sehr schwierigen Aufgabe assistierte. Conway ging auf die Galerie, um auf Mannon zu warten. Die LSVOs kamen von einem Planeten mit dichter Atmosphäre und lächerlich geringer Schwerkraft. Es handelt sich um eine geflügelte Lebensform von äußerster Zerbrechlichkeit. Das erforderte, daß der Operationssaal praktisch auf Null-Schwerkraft eingestellt wurde und daß die Chirurgen sich rings um den Tisch anschnallten. Der kleine OTSB, der in Symbiose mit dem elefantenartigen Tralthaner lebte, war nicht angeschnallt, aber einer der Sekundärtentakel seines Wirts hielt ihn über dem Operationstisch fest. Conway wußte, daß OTSBs den Verlust des physischen Kontakts mit ihren Wirten nicht länger als ein paar Minuten aushielten, ohne schweren geistigen Schaden zu erleiden. Trotz seiner Sorgen begann die Operation ihn zu interessieren. Ein Teil des Verdauungstrakts des Patienten war freigelegt worden, und man konnte daran ein schwammiges bläuliches Gewächs erkennen. Ohne ein LSVO-Physiologieband konnte Conway nicht sagen, ob der Zustand des Patienten ernst war oder nicht, aber jedenfalls war die Operation in technischer Hinsicht schwierig. Das erkannte er an der Art und Weise, wie Mannon sich über den Patienten beugte und wie der Tralthaner seine nicht benötigten Tentakel anspannte. Der kleine OTSB mit seinem Gewirr von drahtdünnen Tentakeln, die mit Augen und Saugnäpfen bewachsen waren, verrichtete wie üblich die Detailarbeit — er sandte unendlich fein aufgeteilte visuelle Informationen an seinen riesigen Wirt und erhielt dementsprechende Anweisungen. Der Tralthaner und Dr. Mannon befaßten sich mit der vergleichsweise groben Arbeit, Blutgefäße abzubinden und Gefäße zu vernähen. Dr. Mannon hatte wenig zu tun, die Hauptarbeit verrichteten die überempfindlichen Tentakel des tralthanischen Parasiten, aber Conway wußte, daß sein Vorgesetzter stolz darauf war, dabei zu sein. Kombinationen zwischen Tralthanern und OTSBs waren die größten Chirurgen, die die Galaxis je gekannt hatte. Conway wartete, als sie aus dem Operationssaal kamen. Einer der Tentakel des Tralthaners klopfte Dr. Mannon auf den Kopf — eine Geste, die ein hohes Kompliment darstellte —, und unmittelbar darauf huschte ein kleines Bündel aus Fell und Zähnen hinter einem Schrank hervor und auf das große Wesen zu, das allem Anschein nach seinen Herrn und Meister angriff. Conway hatte diesem Spiel schon oft beigewohnt, und es kam ihm immer noch lächerlich vor. Mannons Hund kläffte die Kreatur, die hoch über ihm und seinem Meister aufragte, wütend an, als wolle er sie zu einem Duell herausfordern, und der Tralthaner zuckte in gespieltem Schrecken zurück und schrie: „Rette mich vor diesem furchtbaren Ungeheuer!“ Der Hund, immer noch kläffend, umkreiste ihn, schnappte nach den lederartigen Hautlappen, die die sechs stämmigen Beine des Tralthaners schützten. Der Tralthaner flüchtete, wobei er immer wieder um Hilfe schrie und gleichzeitig sorgsam bemüht war, den winzigen Angreifer nicht unter seinen mächtigen Beinen zu zermalmen. Langsam entfernten sich die beiden Kämpfer. Als sie verschwunden waren, sagte Conway: „Doktor, ich wollte Sie fragen, ob Sie mir helfen können. Ich brauche einen Rat oder zumindest eine Information. Aber es ist eine recht delikate Angelegenheit…“ Conway sah, wie Dr. Mannons Augenbrauen sich hoben und ein Lächeln um seine Mundwinkel zuckte. „Ich helfe Ihnen natürlich gern“, sagte der Arzt, „aber ich fürchte, im Augenblick würde Ihnen mein Rat nicht viel nützen.“ Er schnitt eine Grimasse und fuchtelte mit den Armen. „Im Augenblick habe ich nämlich noch ein LSVO-Band. Sie wissen ja, wie es ist — meine eine Hälfte glaubt, ich sei ein Vogel, und die andere ist etwas durcheinander. Aber was brauchen Sie denn für einen Rat?“ fuhr er fort und legte den Kopf in einer seltsam vogelartigen Geste etwas zur Seite. „Falls es sich um diese eigenartige Krankheit handelt, die man ›Liebe‹ nennt, oder sonst um eine psychologische Störung, würde ich vorschlagen, daß Sie zu O’Mara gehen.“ Conway schüttelte schnell den Kopf; jeder, nur O’Mara nicht! „Nein“, sagte er. „Es ist eher philosophischer Natur. Eine ethische Frage vielleicht…“ „Ach so!“ platzte Mannon heraus. Er wollte noch etwas sagen, runzelte dann aber die Stirn und deutete auf den Interkom an der Wand. „Die Lösung auf Ihr schwerwiegendes Problem wird wohl oder übel warten müssen“, sagte er leise. „Man sucht Sie.“ „… Dr. Conway“, kam es blechern aus dem Interkom. „Gehen Sie auf Zimmer siebenundachtzig und verteilen Sie Anregungsspritzen…“ „Aber siebenundachtzig ist nicht einmal in unserer Abteilung!“ protestierte Conway. „Was geht hier vor…?“ Dr. Mannons Gesicht hatte sich plötzlich verfinstert. „Ich glaube, ich weiß es“, sagte er, „und ich rate Ihnen gut, heben Sie sich ein paar von diesen Spritzen für sich selbst auf, Sie werden sie brauchen.“ Er wandte sich abrupt ab und eilte davon, wobei er halblaut vor sich hinmurmelte, er müsse sein Band schnell löschen lassen, ehe jemand nach ihm rief. Zimmer siebenundachtzig war der Ruheraum der Unfallabteilung, und als Conway eintraf, waren alle Tische, Stühle, ja sogar teilweise der Boden voll grün uniformierter Monitore, von denen einige nicht einmal mehr soviel Energie hatten, um den Kopf zu heben, als er eintrat. Eine Gestalt stemmte sich mit äußerster Mühe aus einem Stuhl hoch und wankte auf ihn zu. Es war ein Monitor mit dem Rangabzeichen eines Majors an der Schulter und dem Äskulapstab am Kragenspiegel. „Maximaldosis“, keuchte er. „Fangen Sie mit mir an.“ Er schälte sich mühsam aus seiner Uniform. Conway sah sich im Raum um. Es mußten mindestens hundert sein, und alle befanden sich im Zustand äußerster Erschöpfung. Ihre Gesichter waren von fahlgrauer Farbe. Conway war immer noch nicht gerade gut auf das Monitor-Korps zu sprechen, aber das hier waren schließlich Patienten, und seine Pflicht war klar. „Als Arzt rate ich entschieden ab“, sagte Conway ernst. „Es ist deutlich zu sehen, daß Sie schon Spritzen bekommen haben — viel zu viele sogar. Was Sie brauchen, ist Schlaf.“ „Schlaf?“ sagte irgendwo eine Stimme. „Was ist das denn?“ „Ruhig, Teirnan“, sagte der Major müde, und dann zu Conway gewandt: „Als Arzt ist mir das Risiko natürlich klar. Ich schlage vor, daß wir keine Zeit mehr verschwenden.“ Conway teilte schnell und geschickt seine Spritzen aus. Müde Männer mit stumpfen Augen reihten sich vor ihm auf und verließen fünf Minuten darauf mit glänzenden Augen und federnden Schritten den Raum. Er war gerade fertig, als er erneut seinen Namen im Interkom hörte. Diesmal sollte er sich nach Schleuse sechs begeben und dort auf weitere Anweisungen warten. Schleuse sechs, das wußte Conway, war einer der Hilfseingänge der Unfallstation. Während er dem neuen Ziel zueilte, stellte Conway plötzlich fest, daß er müde und hungrig war, aber er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Der Interkom wies soeben sämtliche Junior-Internisten an, sich in der Unfallabteilung zu melden. Dann folgte dieselbe Durchsage in irgendeiner fremden Sprache, als die gleiche Anweisung einer anderen Spezies erteilt wurde. Offensichtlich hatte man in der Unfallabteilung alle Hände voll zu tun. Aber weshalb und woher kamen all die Verletzten? Conway hatte darauf keine Antwort. 11 Bei Schleuse sechs verhandelte ein tralthanischer Diagnostiker mit zwei Monitoren. Conway empfand geradezu Wut, das höchste und die niedrigsten Wesen so dicht beieinander zu sehen, und tröstete sich dann mit dem Gedanken, daß er in dieser Station überhaupt nichts mehr verstand. Neben dem Bildschirm der Schleuse standen zwei weitere Uniformierte. „Hallo, Doktor“, begrüßte ihn einer freundlich. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Bildschirm. „Bei Schleuse acht, neun und elf laden sie aus. Wir kriegen gleich unsere Zuteilung.“ Auf dem Bildschirm spielte sich eine eigenartige Szene ab: Conway hatte noch nie so viele Schiffe auf einmal gesehen. Mehr als dreißig schlanke silberne Nadeln von der Zehn-Mann-Jacht bis zu den riesenhaften Transportern des Monitor-Korps kreisten langsam umeinander, während sie auf die Schleusengenehmigung warteten. „Ein kompliziertes Geschäft“, stellte der Monitor fest. Conway gab ihm recht. Die Abstoßfelder, die die Schiffe gegen Kollisionen mit den verschiedenen Arten kosmischen Abfalls schützten, erforderten eine Menge Raum. Meteoritenschirme mußten mindestens fünf Meilen vom Schiff entfernt wirken, wenn sie große und kleine Himmelskörper erfolgreich ablenken sollten — und bei größeren Schiffen noch viel weiter. Aber die Schiffe draußen waren höchstens ein paar hundert Meter voneinander entfernt und besaßen keinerlei Kollisionsschutz außer dem Geschick ihrer Piloten. Aber Conway hatte wenig Zeit, sich dem interessanten Schauspiel zu widmen. Gerade kamen drei Internisten von der Erde. Zwei DBGDs mit ihrem charakteristischen roten Pelz und ein raupenartiger DBLF folgten ihnen. Alle trugen medizinische Abzeichen. Dann war ein Scharren von Metall auf Metall zu hören. Die Kontrollampen der Schleuse wechselten von rot auf grün und zeigten damit an, daß ein Schiff ordnungsgemäß angeschlossen war. Und jetzt strömten die Patienten herein. Sie wurden von Monitoren auf Bahren getragen, und es handelte sich nur um zwei Arten: DBGDs vom erdmenschlichen Typ und DBLF-Raupen. Conways Aufgabe und die der anderen anwesenden Ärzte war, sie zu untersuchen und sie an die richtige Abteilung der Unfallstation zur eigentlichen Behandlung weiterzuleiten. Er machte sich an die Arbeit, wobei ihn ein Monitor unterstützte, der alle Attribute eines geübten Pflegers besaß. Er stellte sich als Williamson vor. Der Anblick des ersten Patienten verursachte in Conway einen Schock — nicht wegen der Schwere, sondern wegen der Art der Verletzung. Beim dritten Patient hielt Conway inne, so daß ihn sein Monitorassistent fragend ansah. „Was war das für ein Unfall?“ platzte Conway heraus. „Mehrfache Punktierungen, aber die Wundränder ausgebrannt. Das sieht mehr nach einer Explosion aus. Wie…?“ Der Monitor sah sich zuerst vorsichtig um, ehe er antwortete. „Wir haben natürlich nichts darüber verlauten lassen, aber ich hatte gedacht, zumindest das Gerücht wäre bekannt.“ Er preßte die Lippen zusammen und hatte jetzt den Gesichtsausdruck, der nach Conways Meinung für alle Angehörigen des Monitor-Korps charakteristisch war. „Sie wollten Krieg spielen“, fuhr der andere fort und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Erdmenschen und DBLFs rings um sie. „Ich fürchte, die Sache ist etwas zu weit gegangen, ehe wir uns einschalten konnten.“ Ein Krieg! dachte Conway. Menschliche Wesen von der Erde oder einem von der Erde kolonisierten Planeten, die versuchten, Angehörige der Spezies zu töten, die mit ihnen so viel gemeinsam hatten. Er hatte gehört, daß es gelegentlich so etwas gab, aber er hatte nie geglaubt, daß eine intelligente Spezies wirklich so den Verstand verlieren konnte. So viele Verletzte! Dann erhob sich plötzlich ein paar Meter rechts von ihm Stimmengewirr. Ein menschlicher Patient wehrte sich gegen den DBLF-Internisten, der ihn untersuchen wollte, und bediente sich dabei nicht gerade feiner Ausdrücke. Der DBLF sah sich hilfesuchend und verstört um, aber das blieb dem Menschen, der seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten vermochte, natürlich verschlossen. Williamson brachte die Angelegenheit sofort ins reine. Mit zwei langen Schritten stürmte er zu dem laut protestierenden Patienten und beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. Dann redete er mit leiser Stimme, aber dennoch mit einer Stimme, die Conway Schauder über den Rücken jagte, auf ihn ein. „Hören Sie zu, Freundchen“, sagte er, „Sie wollen also nicht, daß einer von diesen stinkenden Kriechern Sie zusammenflickt, ja? Jetzt will ich Ihnen mal was sagen — und ich gebe Ihnen den guten Rat, daß Sie es sich merken: dieser Kriecher hier ist Arzt, und auf dieser Station gibt es keine Kriege. Ihr gehört alle der gleichen Armee an, und eure Uniform ist ein Nachthemd, also bleibt ruhig liegen, haltet den Mund und benehmt euch, sonst setzt’s was.“ Conway wandte sich wieder seiner Arbeit zu und beschloß, seine Ansicht über das Monitor-Korps zu revidieren. Dann beobachtete er wieder Williamson und wunderte sich. Dieser unermüdliche ruhige Mann mit den sicheren Händen — war das ein Mörder ohne Intelligenz und Moral? Es war schwer, sich dies vorzustellen. Und dann traf Conway eine Entscheidung. Es war eine sehr schwierige Entscheidung. Wenn er nicht aufpaßte, konnte es leicht sein, daß der Monitor wütend wurde und zuschlug. O’Mara war unmöglich gewesen und Bryson und Mannon waren es aus verschiedenen Gründen auch, aber Williamson… „Äh — äh — Williamson“, begann Conway zögernd und setzte dann schnell hinzu, „haben Sie schon jemand umgebracht?“ Der Monitor richtete sich plötzlich auf, und seine Lippen wirkten wie ein schmaler weißer Strich. Dann sagte er ausdruckslos: „Eigentlich sollten Sie wissen, daß man einen Monitor so etwas nicht fragt, Doktor. Oder nicht?“ Er zögerte und schien den inneren Konflikt zu bemerken, der sich in Conway abspielte. Dann fragte er: „Was haben Sie denn, Doc?“ Conway wünschte verzweifelt, er hätte nie die Frage gestellt, aber jetzt war es zu spät. Zuerst stammelnd, dann jedoch zusammenhängender, begann er, über seine Ideale zu sprechen und über die Verwirrung, die er empfunden hatte, als er entdeckte, daß Sector General — ein Gebilde, das seine höchsten Ideale verkörperte — einen Monitor als Chefpsychologen hatte und wahrscheinlich andere Angehörige des Korps in verantwortlichen Positionen. Conway wußte jetzt, daß das Korps nicht an sich schlecht war, daß Angehörige seiner medizinischen Abteilung ihnen zu Hilfe geschickt worden waren. Aber trotzdem…! „Jetzt werde ich Ihnen noch einen Schock verpassen“, sagte Williamson trocken, „indem ich Ihnen nämlich etwas sage, was so allgemein bekannt ist, daß niemand mehr daran denkt. Dr. Lister, der Direktor, gehört auch dem Monitor-Korps an. Er trägt natürlich keine Uniform“, fügte er schnell hinzu, „weil Diagnostiker manchmal in kleinen Dingen ungenau werden. Und das Korps hat etwas gegen nicht ordentlich getragene Uniformen, sogar bei einem Oberstleutnant.“ „Lister, ein Monitor! Aber warum?“ platzte Conway heraus. „Jeder weiß doch, was sie sind. Wie haben sie hier denn die Macht ergriffen…?“ „Das weiß anscheinend niemand“, unterbrach ihn Williamson, „Sie jedenfalls nicht.“ 12 Der Monitor war nicht mehr wütend, stellte Conway fest, als sie ihren augenblicklichen Patienten verließen und zum nächsten gingen. Jetzt erinnerte der Gesichtsausdruck des Mannes eher an das eines Vaters, der seinem Sprößling von den unangenehmeren Seiten des Lebens erzählt. „Im Grunde genommen“, sagte Williamson und löste einem verwundeten DBLF vorsichtig ein Pflaster ab, „besteht ja die ganze Schwierigkeit darin, daß Sie und Ihre ganze Gesellschaftsgruppe eine geschützte Spezies sind.“ „Was?“ fragte Conway. „Eine geschützte Spezies“, wiederholte der Monitor, „von den unangenehmen Seiten des heutigen Lebens abgeschirmt. Aus Ihrer sozialen Schicht — auf allen Welten der Union, nicht nur auf der Erde — kommen praktisch alle großen Künstler, Musiker und Gelehrten. Die meisten von Ihnen leben das ganze Leben in Unwissen und merken nie, daß sie von Kindheit an isoliert sind und die unangenehmeren Seiten unserer interstellaren sogenannten Zivilisation überhaupt nicht miterleben. Sie erfahren nie, daß ihre Ideen von Pazifismus und ethischem Benehmen ein Luxus sind, den die meisten von uns sich überhaupt nicht leisten können. Ihnen gewährt man diesen Luxus, weil man hofft, daß sich daraus eines Tages eine Philosophie entwickelt, durch die jedes Wesen in der Galaxis wirklich zivilisiert, wirklich gut wird.“ „Das habe ich nicht gewußt“, stammelte Conway. „Und… und das klingt ja, als ob wir — ich meine ich — völlig nutzlos wären…“ „Natürlich haben Sie das nicht gewußt“, sagte Williamson sanft. Conway fragte sich, wie es kam, daß ein junger Mann so schön reden konnte, ohne ihn zu beleidigen; er schien irgendwie Autorität zu besitzen. Dann fuhr er fort: „Sie haben wahrscheinlich im Wolkenkuckucksheim Ihrer hohen Ideale gelebt. Nicht, daß daran etwas schlecht wäre — Sie dürfen nur nicht vergessen, daß es nicht nur schwarz und weiß, sondern auch grau gibt. Unsere augenblickliche Kultur“, fuhr er dann fort, um wieder auf das Hauptthema ihrer Diskussion zurückzukehren, „beruht auf einem Höchstmaß an Freiheit für das Individuum. Jedes Wesen darf tun, was es will, solange es damit andere nicht verletzt. Nur wir Monitore verzichten auf diese Freiheit.“ „Und was ist mit den Reservaten von ›Normalen‹?“ unterbrach ihn Conway. Endlich hatte der Monitor eine Behauptung aufgestellt, der er widersprechen konnte. „Ich würde es nicht gerade Freiheit nennen, unter der Polizeiaufsicht von Monitoren zu leben und auf bestimmte Landstriche beschränkt zu sein.“ „Wenn Sie es sich genau überlegen“, antwortete Williamson, „glaube ich, werden Sie feststellen, daß die Normalen — das heißt die Gruppe auf praktisch jedem Planeten, die sich im Gegensatz zu den rohen Monitoren und den rückgratlosen Ästheten ihrer eigenen Schicht wirklich für ein repräsentatives Abbild ihrer Spezies hält — nicht eingeschränkt sind. Im Gegenteil, sie haben sich auf natürliche Weise zu Gemeinwesen zusammengefunden. Und gerade in diesem Gemeinwesen von Normalen müssen wir Monitore am aktivsten sein. Die Normalen besitzen jede Freiheit, auch das Recht, einander zu töten, wenn sie das wünschen, und das Monitor-Korps hat nur darüber zu wachen, daß Normale, die diesen Wunsch nicht teilen, darunter nicht Schaden leiden. Wir sorgen auch dafür, daß, wenn auf diesen Welten — von denen einige eigens für diesen Zweck ausgewählt sind — einmal ein Krieg ausbricht, dieser weder zu lang noch zu blutig wird.“ Williamson seufzte. Dann fügte er im Ton bitterer Selbstanklage hinzu: „Wir haben sie unterschätzt. Dieser Krieg hier war blutig und war lang.“ Conways Geist konnte sich immer noch nicht mit den radikal neuen Ideen abfinden. Ehe er in das Hospital gekommen war, hatte er nie direkten Kontakt mit Monitoren gehabt — warum auch? Und die Normalen auf der Erde waren ihm als ziemlich romantische Gestalten in Erinnerung, Menschen, die etwas zu Übertreibungen neigten, das war alles. Natürlich stammte der Großteil seines Wissens über die Monitore von ihnen. Vielleicht hatten die Normalen es mit der Wahrheit und der Objektivität nicht so genau genommen. „Das ist alles schwer zu glauben“, protestierte Conway. „Sie wollen also sagen, daß das Monitor-Korps in der Ordnung der Dinge größer ist als die Normalen, oder wir, die professionelle Klasse!“ Er schüttelte ärgerlich den Kopf. „Und außerdem ist das jetzt nicht gerade der richtige Augenblick für eine philosophische Diskussion!“ „Sie haben ja damit angefangen“, konterte der Monitor. Darauf gab es keine Antwort. Als Conway eine leichte Berührung an der Schulter spürte und einen DBLF-Pfleger hinter sich sah, mußten seit diesem Gespräch ein paar Stunden vergangen sein. Das Wesen hielt eine Spritze und fragte: „Eine Injektion, Doktor?“ Plötzlich wurde Conway bewußt, wie schwammig seine Beine geworden waren und wie schwer es ihm fiel, die Augen auf einen Gegenstand zu richten. Offenbar mußte sein nachlassendes Tempo aufgefallen sein, sonst wäre der Pfleger nicht gekommen. Er nickte und krempelte mit einer Hand, die ihm völlig gefühllos vorkam, den Hemdsärmel hoch. „He!“ schrie er auf. „Was haben Sie denn da, einen sechszölligen Nagel?“ „Entschuldigen Sie“, sagte der DBLF, „aber ehe ich zu Ihnen kam, habe ich zwei Ärzten meiner eigenen Spezies Injektionen gegeben, und Sie wissen ja, daß unsere Oberhaut dicker und körniger ist als die Ihre. Die Nadel ist deshalb etwas abgestumpft.“ Conways Müdigkeit war binnen Sekunden verflogen. Abgesehen von einem leichten Kribbeln in den Händen und Füßen und ein paar grauen Flecken im Gesicht, die nur andere sehen konnten, kam er sich so frisch und munter vor, als wäre er gerade nach zehn Stunden Schlaf aufgestanden und unter die Dusche getreten. Er blickte schnell in die Runde, ehe er die Untersuchung seines augenblicklichen Patienten fortsetzte, und stellte befriedigt fest, daß die Zahl der noch nicht behandelten Patienten auf eine Handvoll zusammengeschrumpft war und daß auch nur mehr halb so viele Angehörige des Monitor-Korps im Raum waren als zu Anfang. Mit den Patienten war man also beinahe fertig, und die Monitore waren selbst Patienten geworden. Und das alles war rings um ihn vorgegangen. Monitore, die unterwegs auf den großen Schiffen praktisch keinen oder nur wenig Schlaf gehabt hatten, hatten sich eisern dazu gezwungen, weiterzuarbeiten und den überarbeiteten Ärzten des Hospitals zu helfen. Einer nach dem anderen waren sie praktisch bei der Arbeit zusammengebrochen und weggeschleppt worden, so erschöpft, daß ihre Herz- und Lungenmuskeln einfach die Arbeit aufgegeben hatten. Sie lagen jetzt in Spezialstationen, wo sie robotische Herzmassage und künstliche Atmung erhielten und durch eine Vene am Bein künstlich ernährt wurden. Conway hatte gehört, daß nur einer von ihnen gestorben war. Conway und Williamson nützten einen kurzen Augenblick der Ruhe aus, um durch eine Beobachtungsluke hinauszusehen. Die wartenden Schiffe schienen kaum weniger geworden, und Conway wußte, daß es sich hier um Neuankömmlinge handeln mußte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wo sie all diese Leute unterbringen sollten — selbst die Korridore im Hospital waren schon zum Bersten gefüllt, und es wurden immer noch Patienten aller Spezies umgelegt, um mehr Platz zu schaffen. Aber das war nicht sein Problem. Und das wogende Durcheinander von Schiffen wirkte eigenartig beruhigend auf ihn. „Achtung, dringender Notfall“, meldete plötzlich eine Stimme aus dem Interkom an der Wand. „Einzelnes Schiff, ein Insasse, Spezies bis jetzt noch unbekannt, verlangt sofortige Behandlung. Insasse hat nur teilweise Kontrolle über sein Schiff, schwer verletzt, und die Verbindung ist unzusammenhängend. Achtung, an alle Einlaßschleusen…!“ O nein, dachte Conway, nicht ausgerechnet in diesem Augenblick! Er hatte ein kaltes Gefühl im Magen und malte sich in den schwärzesten Farben aus, was geschehen würde. Williamsons Knöchel traten weiß hervor, so fest umkrampfte er den Rand der Luke. „Da!“ sagte er mit ausdrucksloser, verzweifelter Stimme. Ein fremder Eindringling näherte sich den wartenden Schiffen mit wahnwitziger Geschwindigkeit und auf unberechenbarem Kurs; eine gedrungene schwarze Torpedoform erreichte und durchdrang die wogende Schiffsmasse, ehe Conway auch nur Luft holen konnte. Die Schiffe stoben auseinander, entgingen um Haaresbreite dem Zusammenstoß, und der Fremde raste weiter, als wäre nichts geschehen. Jetzt befand sich nur noch ein Schiff in seiner Flugbahn, ein Monitor-Transporter, der gerade Landeerlaubnis bekommen hatte und sich einer Einlaßschleuse näherte. Der Transporter war schwerfällig und groß und nicht für blitzschnelle Manöver gebaut — er hatte weder Zeit noch die Manövrierfähigkeit, sich zu retten. Ein Zusammenstoß war unabwendbar, und der Transporter war mit Verwundeten vollgestopft! Aber nein. Im letzten möglichen Augenblick wich das herannahende Schiff aus. Sie sahen, wie es an dem Transporter vorbeiraste und jetzt geradewegs auf sie zukam! Conway wollte die Augen schließen, aber der Anblick war zu faszinierend. Weder Williamson noch er machten den Versuch, in einen Raumanzug zu springen — und das, was geschehen mußte, war nur noch Sekundenbruchteile entfernt. Das Schiff hatte sie schon beinahe gerammt, als es plötzlich erneut vom Kurs abwich. Offenbar hatte der verletzte Pilot verzweifelt versucht, dem Hindernis, das das Hospital für ihn bildete, auszuweichen. Aber zu spät. Das Schiff prallte auf. Ein gewaltiger Stoß ließ den Boden unter ihnen erzittern, als das Schiff die Doppelwand der Station durchbrach, dann folgten einige schwächere Stöße, als es sich in das Innere des großen Hospitals bohrte. Markerschütternde Schreie waren zu hören, zischende und gutturale Laute, als Wesen aller Arten umkamen. Wasser ergoß sich in Abteilungen, die reines Chlor enthielten. Ein Strom gewöhnlicher Luft pfiff durch ein klaffendes Loch in die Abteilung, deren Insassen bisher keine andere Umgebung als transplutonische Kälte und Vakuum gekannt hatten — die Wesen verdorrten und lösten sich in schrecklicher Weise bei der ersten Berührung mit dem fremden Element auf. Wasser, Luft und ein Dutzend verschiedener atmosphärischer Gemische vereinigten sich und bildeten eine klebrige, braune, höchst korrodierende Mixtur, die sich dampfend und sprudelnd den Weg ins All bahnte. Aber schon lange, bevor das geschehen war, hatten sich die luftdichten Schotts geschlossen, um das große Leck abzuschließen, das das Schiff geschlagen hatte. 13 Einen Augenblick lähmenden Schreckens — und dann reagierte das Hospital. Über ihnen erwachte der Lautsprecher zu neuem Leben. Ingenieure und Mechaniker aller Spezies sollten sich sofort zum Befehlsempfang melden. Die Gravitationsgitter in den LSVO- und MSVK-Stationen funktionierten nicht — das medizinische Personal dieser Stationen sollte die Patienten mit Schutzhüllen bedecken und sie in den DBLF-Operationssaal zwei bringen, wo ein zwanzigstel Gravo eingeschaltet wurde. Im AUGL-Korridor war ein Leck. Neunzehn und alle DBGDs wurden vor Chlorverseuchung in ihrem Speisesaal gewarnt. Dr. Lister wurde gebeten, sich zu melden. Conway hörte plötzlich seinen Namen rufen und wirbelte herum. Das war Dr. Mannon. Er rannte auf Williamson und Conway zu und sagte: „Ich sehe, Sie sind im Augenblick frei. Ich hätte eine Arbeit für Sie.“ Er wartete, bis Conway nickte und fuhr dann atemlos fort. Als das Schiff sich wieder in die Station gebohrt hatte, erklärte Mannon, beschränkten sich die von den Sicherheitsschotts abgeschlossenen Abteilungen nicht nur auf die unmittelbare Umgebung des Übeltäters. Schuld daran hatte die Lage der Türen — und so war etwas entstanden, was man am besten mit einem „Baum“ aus Vakuum verglich, der sich in das Innere des Hospitals erstreckte, wobei der von dem Schiff aufgerissene Tunnel der Stamm war und die offenen Abschnitte der Korridore, die davon abzweigten, die Äste. Einige dieser luftlosen Korridore führten zu Räumen, die ihrerseits luftdicht abgeschlossen werden konnten, und so bestand die Möglichkeit, daß sich dort Überlebende aufhielten. Normalerweise würde keine Notwendigkeit bestehen, sich mit der Rettung dieser Individuen zu beeilen, da sie dort, wo sie waren, tagelang existieren konnten, aber jetzt kam noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. Das Schiff war im Zentrum des Hospitals zum Stillstand gekommen, jener Abteilung, wo die Steueranlagen für die künstliche Schwerkrafterzeugung des ganzen Gebäudes angeordnet waren. Im Augenblick schien es irgendwo in diesem Abschnitt einen Überlebenden zu geben — vielleicht einen Patienten oder ein Mitglied des medizinischen Stabes, oder vielleicht sogar den Insassen des Schiffswracks, der vermutlich, ohne es zu wissen, allein durch die Tatsache, daß er sich herumbewegte, Schaden an den Schwerkraftsteueranlagen anrichtete. Dieser Zustand konnte, wenn er andauerte, in den einzelnen Stationen katastrophale Folgen haben, ja vielleicht sogar Todesfälle unter den Lebensformen, die geringe Schwerkraft gewöhnt waren, verursachen. Dr. Mannon wollte, daß sie das Zentrum der Station aufsuchten und das Wesen herausholten, ehe es in seiner Unwissenheit die ganze Station ruinierte. „Ein PVSJ ist bereits hineingegangen“, fügte Mannon hinzu, „aber dieses Spezies ist in einem Raumanzug so unbeholfen, daß ich Sie beide auch noch hineinschicke, damit die Sache schneller geht. Okay? Also dann los.“ Mit Schwerkraftneutralisatoren bepackt verließen sie die Station in der Nähe der beschädigten Abteilung und schwebten an der Außenhülle des Hospitals entlang auf das sieben Meter große Loch zu, das das aufprallende Schiff in die Seite der Station geschlagen hatte. Die Schwerkraftneutralisatoren erlaubten im schwerefreien Zustand eine erstaunliche Manövrierbarkeit. Beide trugen Seile und Magnetanker, und Williamson — wie er sagte, nur weil es Teil der Standardausrüstung war, die ihm mit seinem Dienstraumanzug zugeteilt worden war — trug auch eine Pistole. Beide hatten Luft für drei Stunden. Zuerst war alles ganz einfach. Das Schiff hatte durch die Schotts der einzelnen Stationen einen deutlich erkennbaren Tunnel gebohrt und in seinem Vernichtungswerk auch nicht vor Decksplanken oder schweren Maschinen haltgemacht. Conway konnte bei ihrem Abstieg deutlich die Korridore sehen, aber nirgends war ein Lebenszeichen zu erkennen. Da lagen die Überreste eines Hochdrucklebewesens, das selbst unter den normalen atmosphärischen Bedingungen der Erde auseinandergeflogen wäre. Dem harten Vakuum ausgesetzt, war der Prozeß um so heftiger gewesen. Je weiter sie vorwärts kamen, desto mehr behinderten sie Teile des fremden Wracks — Platten und strukturelle Glieder, die von dem Schiffswrack abgerissen waren — und so waren sie manchmal genötigt, sich mit Händen und Füßen den Weg zu bahnen. Williamson hatte die Spitze übernommen — etwa zehn Meter unter Conway — als er plötzlich verschwand. Im Anzugradio wurde sein überraschter Schrei von dem Klirren von Metall auf Metall abgeschnitten. Conways Griff um einen Stahlträger, den er gerade festhielt, verkrampfte sich unwillkürlich. Das Wrack bewegte sich! Einen Augenblick erfaßte ihn Panik, bis er begriff, daß die Bewegung hauptsächlich über ihm, also dort, woher er kam, vor sich ging. Ein paar Minuten später hörte die Vibration auf, ohne daß die Wrackteile um ihn ihre Lage veränderten. Erst jetzt sicherte Conway sein Seil an dem Träger und sah sich nach dem Monitor um. Die Knie angezogen und die Arme vor dem Gesicht, lag Williamson mit dem Gesicht nach unten, halb von einem Haufen loser Wrackteile verdeckt, etwa sieben Meter unter ihm. Das Geräusch schwachen, unregelmäßigen Atmens in seinem Kopfhörer verriet Conway, daß der Monitor sich durch seine schnelle Reaktion — indem er die zerbrechliche Gesichtsplatte seines Helms mit den Armen geschützt hatte — fürs erste das Leben gerettet hatte. Aber Williamsons Leben hing von der Art seiner weiteren Verletzungen ab, und diese wiederum hingen von der Stärke der Schwerkraft ab, die ihn plötzlich in die Tiefe gerissen hatte. Der Unfall war durch eine Bodenplatte verursacht worden, in der das Schwerkraftgitter trotz der Zerstörung sonstiger Stromkreise noch funktionierte. Conway empfand tiefe Dankbarkeit für den Umstand, daß diese Anziehung nur im rechten Winkel zur Oberfläche des Gitters wirkte und daß die Bodenplatte etwas gebogen gewesen war. Wäre sie genau nach oben gerichtet gewesen, dann wären sowohl der Monitor als auch er selbst abgestürzt, und zwar aus einer wesentlich größeren Höhe. Vorsichtig seilte Conway sich ab und näherte sich der zusammengekrümmten Gestalt. Als er sich dem Einflußbereich des Schwerkraftgitters näherte, verstärkte sich unwillkürlich sein Griff um das Seil, lockerte sich aber wieder, als er feststellte, daß die Schwerkraft höchstens eineinhalb G betrug. Jetzt ließ Conway sich Hand über Hand hinab. Er hätte natürlich seinen Neutralisator einschalten können, um auf diese Weise der Anziehung zu entgehen, aber das wäre riskant gewesen. Wäre er nämlich dann zufällig aus dem Einflußbereich des Schwerkraftgitters geraten, so hätte ihn sein Neutralisator vermutlich mit voller Gewalt gegen die Decke geschleudert, und das hätte wieder unangenehme Folgen haben können. Der Monitor war immer noch bewußtlos, als Conway ihn erreichte, und Conway vermutete, obwohl er das natürlich durch den Raumanzug nicht sagen konnte, daß er an beiden Armen mehrfache Brüche davongetragen hatte. Während er die schlaffe Gestalt vorsichtig aus den herumliegenden Wrackteilen befreite, wurde ihm plötzlich klar, daß Williamson Hilfe brauchte, und zwar sofortige Hilfe, mit allen Mitteln, die dem Hospital zur Verfügung standen. Er erinnerte sich plötzlich, daß der Monitor eine ganze Anzahl Energiespritzen erhalten hatte; seine Kraftreserven mußten dahin sein. Wenn er die Besinnung wiedererlangte — sollte das je der Fall sein —, so würde er vielleicht dem Schock nicht gewachsen sein. 14 Conway wollte gerade nach Hilfe rufen, als ein kantiger Metallbrocken an ihm vorbeiflog. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, um einem zweiten Wrackteil auszuweichen, das auf ihn zusegelte. Erst jetzt sah er die Umrisse einer nicht menschlichen Gestalt in einem Raumanzug, die halb hinter einem Gewirr von Wrackteilen etwa zehn Meter entfernt verborgen war. Das Wesen warf nach ihm! Das Bombardement hörte sofort auf, als der andere erkannte, daß Conway es bemerkt hatte. In der Meinung, den unbekannten Überlebenden gefunden zu haben, dessen Herumtaumeln das ganze künstliche Schwerkraftsystem des Hospitals aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, rannte Conway auf den Fremden zu. Aber er sah sofort, daß das Wesen nicht imstande war, sich überhaupt zu bewegen, denn zwei schwere Stahlträger hielten es gegen den Boden gepreßt, auf wunderbare Weise freilich, ohne es verletzt zu haben. Soeben versuchte das Wesen vergebens, die Rückseite seines Anzugs mit dem einzigen freien Arm, Tentakel oder was auch immer es sein mochte, zu erreichen. Conway stutzte einen Augenblick, sah dann aber das Radiogerät, das dem Wesen auf den Rücken geschnallt war und von dem lose ein Anschlußkabel herunterbaumelte. Er reparierte mit Heftpflaster den Schaden, und schon hörte er die ausdruckslose — übersetzte — Stimme in seinen Kopfhörern. Es war der PVSJ, der sich schon vor ihnen aufgemacht hatte, um die Absturzstelle nach Überlebenden abzusuchen. Dieselbe Falle, die den unglücklichen Monitor in die Tiefe gerissen hatte, hatte auch ihn gefangen, aber er hatte seinen Schwerkraftneutralisator einschalten und damit den plötzlichen Sturz abbremsen können. Der Aufprall war verhältnismäßig sanft gewesen, hatte aber einige lose herumliegende Wrackteile gelockert, so daß diese abgestürzt waren und sein Radio beschädigt hatten. Der PVSJ — ein chloratmender Illensaner — steckte in den Wrackteilen fest. Conways Versuche, ihn zu befreien, waren zwecklos. Bei diesem Versuch aber erblickte er das Berufsabzeichen, das auf den Anzug des anderen gemalt war. Die tralthanischen und illensanischen Symbole besagten Conway überhaupt nichts, aber das dritte Zeichen — eine Umschreibung der Funktion des Wesens nach erdmenschlichen Begriffen — war ein Kruzifix. Das Wesen war ein Priester. Jetzt hatte Conway es mit zwei Bewegungsunfähigen zu tun! Er drückte auf den Sprechschalter seines Radios und räusperte sich. Ehe er ein Wort sagen konnte, schnarrte die Stimme Dr. Mannons in seinen Kopfhörern. „Dr. Conway! Monitor Williamson! Bitte schnell melden, bitte!“ „Das wollte ich ja gerade“, sagte Conway und schilderte dann die bisher aufgetretenen Schwierigkeiten und erbat Hilfe für den Monitor und den PVSJ-Priester. Mannon schnitt ihm das Wort ab. „Tut mir leid“, sagte er hastig, „aber wir können Ihnen nicht helfen. Die Schwerkraftschwankungen sind stärker geworden und müssen in Ihrem Tunnel so etwas wie einen Erdrutsch verursacht haben, denn der Tunnel über Ihnen ist jetzt völlig mit Wrackteilen angefüllt. Einige Pioniere haben versucht, einen Weg durchzubrechen, aber…“ „Lassen Sie mich sprechen“, schaltete sich eine andere Stimme ein, und dann hörte man ein kratzendes Geräusch. Offenbar riß jemand Dr. Mannon das Mikrofon weg. „Dr. Conway, hier spricht Dr. Lister“, fuhr die Stimme dann fort. „Ich muß Ihnen leider sagen, daß der Zustand Ihrer beiden Verunglückten von sekundärer Bedeutung ist. Ihre Aufgabe ist es, dieses Wesen in der Schwerkraftsteueranlage zu finden und es daran zu hindern, weiteres Unheil anzurichten. Geben Sie ihm, wenn nötig, eins über den Schädel, aber sorgen Sie dafür, daß es mit diesem Unfug aufhört — es zerstört die ganze Station!“ Conway schluckte, dann sagte er: „Yes, Sir“, und sah sich um, um zu überlegen, wie er tiefer in das Gewirr von Metall rings um ihn eindringen konnte. Es sah hoffnungslos aus. Plötzlich spürte er, wie etwas ihn zur Seite zog. Er griff nach dem nächsten Eisenträger und klammerte sich daran fest, als hinge sein Leben davon ab. Das schleifende, zerrende Geräusch von sich bewegendem Metall übertrug sich durch seinen Anzug auf ihn. Die Wrackteile verlagerten sich wieder. Und dann verschwand die Kraft, die an ihm zerrte, ebenso plötzlich wie sie gekommen war, und von dem gleichen Augenblick an war ein eigenartiges bellendes Geräusch von dem PVSJ zu hören. Conway drehte sich um und sah, daß an der Stelle, wo gerade noch der Illensaner gewesen war, jetzt ein gähnendes Loch in die Tiefe führte. Es kostete ihn Anstrengung, den Stahlträger loszulassen. Die Anziehung, die ihn erfaßt hatte, das wußte er jetzt, war darauf zurückzuführen, daß irgendwo in der Tiefe ein künstliches Schwerkraftgitter ein- und gleich wieder ausgeschaltet worden war. Wenn sich das wiederholte, während er frei schwebte… Conway zog es vor, nicht daran zu denken. Die Verschiebung hatte Williamsons Lage nicht verändert. Er lag immer noch da, wo Conway ihn verlassen hatte — aber der PVSJ mußte in die Tiefe gefallen sein. „Alles in Ordnung?“ rief Conway ängstlich. „Ich denke schon“, kam die Antwort. „Ich bin nur noch etwas benommen.“ Conway schwebte vorsichtig auf die neu geschaffene Öffnung zu und sah in die Tiefe. Etwa fünfzehn Meter tiefer war nur der Boden sichtbar, während die Wände außerhalb seines Gesichtswinkels lagen. Der Boden war dick mit einem dunkelblauen röhrenartigen Gewächs bedeckt. Zuerst stutzte Conway, bis ihm klar wurde, daß er sich in dem AUGL-Tank befand, der aber ohne Wasser war. Das dicke Gewächs, das den Boden bedeckte, diente den AUGL-Patienten als Nahrung und gleichzeitig auch als Raumschmuck. Der PVSJ hatte wirklich Glück gehabt, auf eine so weiche Unterlage zu fallen. Jetzt war der PVSJ nicht mehr von Wrackteilen festgeklemmt und erklärte, er sei durchaus imstande, Conway zu helfen. Als sie gerade ihren Abstieg fortsetzen wollten, blickte Conway zu der Lichtquelle, die ihm schon vorhin aufgefallen war, und hielt überrascht den Atem an. Eine Wand des AUGL-Tanks war durchsichtig und gab den Blick auf einen Korridor frei, der für den Augenblick in eine Krankenstation umgewandelt worden war. Irgendwo wurde eine Station evakuiert, und Conway sah, wie durch eben diesen Korridor eine Prozession von Wesen, die wie der Inhalt einer kosmischen Arche Noah aussah, kroch, ging, hopste und rutschte. Alle sauerstoffatmenden Lebensformen waren vertreten und eine ganze Menge anderer, die überhaupt nicht atmeten. Menschliche Krankenpfleger und Monitore betreuten den Zug. Offenbar hatten die Pfleger bereits die Erfahrung gemacht, daß es geradezu einen Knochenbruch herausfordern hieß, aufrecht zu gehen, denn alle krochen auf Händen und Knien dahin. Wenn sie plötzlich ein Schwerkraftstoß von drei oder vier Gravos erfaßte, stürzten sie auf diese Weise nicht so weit. Die meisten von ihnen trugen Schwerkraftneutralisatoren, sah Conway, aber sie hatten sie offenbar abgeschaltet, da sie unter diesen Umständen, nämlich wenn aus der Schwerkraftkonstanten eine Variable wurde, nutzlos waren. Er sah PVSJs in ballonartigen Chlorhüllen, die gegen den Boden gepreßt wurden, um gleich darauf wieder in die Höhe zu prallen. Dann gab es da DBGDs, DBLFs und CLSRs sowie nichtidentifizierbare Wesen in kugelförmigen Behältern mit Rädern, die beinahe sichtbar Kälte ausstrahlten. Und so krochen die Wesen dahin, beugten sich und richteten sich wieder auf wie Ähren im Winde. Conway glaubte beinahe, diese Schwankungen zu fühlen, aber er wußte, daß das abstürzende Schiff die Schwerkraftstromkreise auf seinem Wege vernichtet hatte. Er wandte die Augen von der Prozession ab und kletterte weiter in die Tiefe. „Conway!“ bellte ein paar Augenblicke darauf Mannons Stimme in seinen Kopfhörern. „Dieser Überlebende dort unten hat jetzt schon ebenso viele Verluste verursacht wie die Kollision seines Schiffes. Eine Station genesender LSVOs ist tot, weil plötzlich ein Schwerkraftstoß von ein Achtel auf vier Gravos auftrat. Was passiert jetzt?“ Der Wracktunnel wurde immer enger, berichtete Conway, da die Außenorgane und das Leitwerk des Schiffes an dieser Stelle bereits abrasiert waren. Vor ihnen verblieben jetzt nur noch massivere Dinge wie der Hypergenerator und dergleichen. Conway vermutete, daß sie sich jetzt dem Ende ziemlich weit genähert hatten und damit auch dem Wesen, das, ohne es zu wissen, die Verwüstung rings um sie verursachte. „Gut“, sagte Mannon, „aber bitte beeilen Sie sich!“ „Aber kommen denn die Ingenieure nicht durch? Sie müssen doch…“ „Sie können nicht“, schaltete sich wieder Dr. Listers Stimme ein. „In der Umgebung der Schwerkraftsteueranlage gibt es Schwankungen bis zu zehn Gravos. Das ist unmöglich. Und aus dem Innern des Hospitals an Sie heranzukommen, scheidet ebenfalls aus. Dazu müßten wir Korridore evakuieren, und die stecken alle voll Patienten…“ Die Stimme wurde leiser, als Dr. Lister sich offenbar vom Mikrofon abwandte, und Conway hörte, wie er sagte: „Ich verstehe nur nicht, daß ein intelligentes Wesen so in Panik geraten kann, daß es… daß es… oh, wenn ich es nur in die Hände bekäme…“ „Vielleicht ist es gar nicht intelligent“, warf eine andere Stimme ein. „Vielleicht ist es ein Junges der FGLI-Säuglingsstation…“ An dieser Stelle unterbrach ein scharfes Klicken die Unterhaltung, als der Interkom abgeschaltet wurde. Conway, dem plötzlich bewußt wurde, wie wichtig er geworden war, versuchte, seine Arbeit zu beschleunigen. 15 Ein Stockwerk tiefer erreichten sie eine Station, in der vier MSVKs — zerbrechlich aussehende dreibeinige storchenartige Wesen — leblos zwischen Gerätschaften herumschwebten. Die Bewegungen der Leichen und der Gegenstände im Raum schienen etwas unnatürlich, als wären sie erst kürzlich aus ihrem Ruhezustand gebracht worden. Das war das erste Zeichen des rätselhaften Überlebenden. Und dann befanden sich Conway und der PVSJ in einem großen Raum mit Wänden aus Metall und umgeben von einem Labyrinth von Rohren und Leitungen und Maschinen. Auf dem Boden lag in einer Mulde der massive Hypergenerator des Schiffs, umgeben von einigen Schaltorganen aus der Steuerzentrale. Darunter die Überreste einer jetzt nicht mehr zu klassifizierenden Lebensform. Neben dem Generator hatte irgendein anderer schwerer Bestandteil des Schiffs ein Loch in den Boden gerissen. Conway rannte auf das Loch zu, blickte in die Tiefe und rief dann erregt: „Das ist es!“ Sie blickten in einen weiten Saal, der nur die Steuerzentrale der Schwerkraftanlage sein konnte. Reihen von niedrigen Metallschränken bedeckten Boden, Wand und Decke, und es war kaum Platz für erdenmenschliche Ingenieure, um sich zwischen den Schränken zu bewegen. Aber hier brauchte man auch selten Ingenieure, denn die Geräte in diesem ungeheuer wichtigen Saal reparierten sich selbst. Im Augenblick wurde diese Fähigkeit freilich einer ernsten Prüfung unterzogen. Ein Wesen, das Conway provisorisch als AACL klassifizierte, breitete sich über drei der empfindlichen Kontrollschränke aus. Neun andere Schränke, alle mit roten Notsignalen, die aufgeregt blinkten, befanden sich in Reichweite seiner sechs pythonartigen Tentakel, die durch offenbar luftdicht abschließende Löcher seines Plastikanzuges griffen. Die Tentakel waren fast zehn Meter lang und besaßen an der Spitze eine hornartige Substanz, die, dem Schaden nach zu urteilen, den das Wesen angerichtet hatte, stahlhart sein mußte. Conway hatte im stillen die ganze Zeit Bedauern für den armen Schiffbrüchigen empfunden; er hatte damit gerechnet, ein verletztes, von Panik erfaßtes, vor Schmerz halb verrücktes Wesen vorzufinden. Statt dessen hatte er da ein Wesen vor sich, das allem Anschein nach unverletzt war und jetzt wütend Schwerkraftkontrolleinrichtungen so schnell zerstörte, daß die Reparaturroboter mit dem Ausbessern nicht nachkamen. Conway fluchte und begann, an der Skala die Radiofrequenz des anderen zu suchen. Plötzlich war ein hohes, schrilles Zirpen in seinen Kopfhörern zu vernehmen. „Jetzt hab ich dich!“ murmelte Conway grimmig. Das Zirpen hörte plötzlich auf, als der andere seine Stimme hörte, und ebenso kamen die mächtigen Tentakel zum Stillstand. Conway merkte sich die Wellenlänge und schaltete dann schnell auf das Band zurück, das der PVSJ und er benutzten. „Mir scheint“, sagte der Chloratmer, als er gehört hatte, was geschehen war, „daß das Wesen furchtbare Angst empfindet und daß die Geräusche, die es gemacht hat, Geräusche der Furcht waren — sonst hätten Sie sie ja durch Ihren Translator als Worte empfangen. Tatsache ist jedenfalls, daß der Lärm und die Zerstörungswut des Wesens aufhörten, als es Ihre Stimme hörte, aber ich glaube, wir sollten langsam nähertreten und ihm versichern, daß wir ihm nur helfen wollen. Das Unheil, das der Bursche hier angerichtet hat, macht mir den Eindruck, als hätte es nach allem geschlagen, was sich bewegt. Ich glaube also, einige Vorsicht ist geboten.“ „Ja, Padre“, sagte Conway und nickte. „Wir wissen nicht, nach welcher Richtung die Sehorgane des Wesens orientiert sind“, fuhr der PVSJ fort. „Ich schlage daher vor, daß wir uns ihm von zwei entgegengesetzten Seiten nähern.“ Conway nickte wieder. Sie schalteten ihre Radios auf die neue Wellenlänge und kletterten vorsichtig auf die Decke des Abteils unter ihnen. Dann ließen sie sich behutsam mit Hilfe ihrer Schwerkraftneutralisatoren auf den Boden sinken. Jetzt hatten sie das Wesen zwischen sich und bewegten sich langsam darauf zu. Die Robotreparaturvorrichtungen waren damit beschäftigt, den Schaden wieder gutzumachen, den jene sechs Tentakel angerichtet hatten, die das Wesen als Gliedmaßen besaß. Jetzt lag es ganz ruhig da und gab keinen Laut von sich. Conway mußte immer noch an den Schaden denken, den dieses Wesen mit seinem sinnlosen Herumschlagen angerichtet hatte. Das, was er auf der Zunge hatte, war alles andere als beruhigende Worte, und so überließ er dem PVSJ-Padre das Reden. „Keine Angst“, sagte der gerade zum zwanzigstenmal. „Wenn Sie verletzt sind, sagen Sie es uns. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen…“ Aber von dem Wesen kam weder eine Bewegung noch Antwort. Einem plötzlichen Impuls folgend, schaltete Conway auf Dr. Mannons Wellenlänge. „Der Bursche scheint ein AACL zu sein“, sagte er schnell. „Können Sie mir sagen, weshalb dieses Wesen hier ist oder weshalb es sich weigern oder unfähig sein sollte, mit uns zu sprechen?“ „Ich spreche mit dem Empfang“, antwortete Mannon nach einer kurzen Pause. „Aber sind Sie sich der Klassifikation sicher? Ich kann mich nicht erinnern, je einen AACL gesehen zu haben. Sind Sie sicher, daß es kein Creppelianer ist?“ „Es ist kein creppelianischer Oktopoid“, erklärte Conway. „Das Wesen besitzt sechs Hauptgliedmaßen, und es liegt einfach da und tut nichts…“ Conway hielt plötzlich inne, denn er bemerkte, daß seine Aussage nicht mehr stimmte. Das Wesen hatte sich zur Decke hin abgestoßen, wobei es sich so schnell bewegte, daß es im gleichen Augenblick dort zu landen schien, indem es sich abgestoßen hatte. Conway sah, wie über ihm eine weitere Kontrolleinheit zerstört wurde, als das Wesen zuschlug, und andere fielen aus ihren Halterungen, als die Tentakel sich festzuhalten suchten. In seinem Kopfhörer schrie Mannons Stimme und berichtete etwas von Schwerkraftschwankungen in einer bisher stabilen Abteilung des Hospitals und von ansteigenden Verletztenzahlen, aber Conway konnte keine Antwort geben. Er sah hilflos zu, wie der AACL sich erneut zum Sprung anschickte. „… wir sind hier, um Ihnen zu helfen“, sagte der PVSJ, als das Wesen vier Meter vor dem Padre landete. Fünf große Tentakel verankerten sich fest, während ein sechster blitzartig, so schnell, daß ihm das Auge nicht folgen konnte, herauszuckte, den PVSJ erfaßte und gegen die Wand schmetterte. Chlor spritzte aus dem Anzug des PVSJ und verbarg einen Augenblick in seinem Nebel das formlose, jämmerliche Etwas, das langsam in die Mitte des Raumes zurückprallte. Der AACL begann wieder, zirpende Laute von sich zu geben. Conway hörte sich selbst wie einen Fremden Mannon berichten und vernahm dann, wie Mannon nach Lister schrie. Schließlich erreichte ihn die Stimme des Direktors. Sie sagte: „Sie müssen das Wesen töten, Conway!“ Sie müssen es töten, Conway! Diese Worte waren es, die durch ihre Schockwirkung Conway wieder in die Wirklichkeit zurückrissen. Das sah einem Monitor ähnlich, dachte er bitter. Ein Problem durch Mord zu lösen. Und einen Arzt, ein der Erhaltung des Lebens verschworenes Wesen, aufzufordern, diesen Mord zu verrichten. Es hatte nichts zu besagen, daß das Wesen vor Furcht halb wahnsinnig war, es hatte im Hospital Schwierigkeiten gemacht, also mußte man es töten. Conway hatte Angst gehabt und hatte sie auch noch. In dem Zustand, in dem er sich gerade noch befunden hatte, hätte er in seiner Panik vielleicht die alte Dschungelregel „töte oder werde getötet“, angewandt. Aber nicht jetzt. Ganz gleich, was ihm oder dem Hospital zustieß, er würde kein intelligentes Mitwesen töten, und Lister konnte schreien, bis er blau wurde. Zu seiner Überraschung erkannte Conway plötzlich, daß Lister und Mannon beide auf ihn einbrüllten und seine Argumente zu widerlegen versuchten. Er mußte laut gedacht haben, ohne es zu bemerken. Er drehte wütend am Stellknopf seines Radios, bis die Stimmen nicht mehr zu hören waren. Aber da war noch eine andere Stimme, die auf ihn einredete, eine unbeschreiblich müde, flüsternde Stimme, die immer wieder mit einem schmerzhaften Keuchen abbrach. Einen Augenblick dachte Conway, daß der Geist des toten PVSJ Listers Argumente fortsetzte, und dann sah er über sich eine Bewegung. Die mit einem Raumanzug bekleidete Gestalt Williamsons schwebte sacht durch das Loch in der Decke. Wie es dem schwerverletzten Monitor gelungen war, dorthin zu gelangen, überstieg Conways Verständnis — seine gebrochenen Arme schlossen die Verwendung seines Schwerkraftneutralisators aus. Also mußte er den ganzen Weg zurückgelegt haben, indem er sich mit den Füßen abstieß — wobei er sich darauf hatte verlassen müssen, daß ihn nicht irgendein noch zufällig aktiv gebliebenes Schwerkraftgitter zum zweitenmal herunterriß. Und dann brach Conway der kalte Schweiß aus. Unfähig, seinen Flug zu bremsen, schwebte der verletzte Monitor jetzt langsam auf den Boden zu — direkt auf den geduckten AACL zu! Vor Conways fasziniertem Blick löste sich langsam einer der stahlharten Tentakel und bereitete sich auf den tödlichen Schlag vor. Conway warf sich instinktiv in Richtung auf den schwebenden Monitor. Er hatte jetzt keine Zeit, sich wegen dieser Tat tapfer — oder dumm — vorzukommen. Krachend prallten die beiden Menschen zusammen, und dann schlang Conway die Beine um Williamsons Hüfte, um die Hände für den Schalter des Neutralisators freizuhaben. Sie wirbelten wie wild um ihren gemeinsamen Schwerpunkt, und Wände, Decke und Boden drehten sich so schnell um sie, daß Conway kaum die Steuerorgane im Auge behalten konnte. Es schien Jahre zu dauern, bis die Drehung zum Ende kam und sie wieder auf das Loch in der Decke und damit der Sicherheit zustrebten. Sie hatten sie beinahe erreicht, als Conway die schlangenartigen Tentakel auf sie zukommen sah! 16 Etwas krachte mit solcher Wucht auf seinen Rücken nieder, daß es ihm den Atem raubte. Einen Augenblick hatte er die schreckliche Vorstellung, daß seine Lufttanks abgerissen und sein Anzug aufgeplatzt waren. Aber sein von schierer Angst diktiertes Aufatmen trieb ihm Luft in die Lungen. Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Conway Luft aus einem Tank so gut geschmeckt. Der Tentakel des AACL hatte ihn nur gestreift — sein Rücken war nicht gebrochen — und der einzige Schaden bestand in einem zerschmetterten Radio. „Alles in Ordnung?“ fragte Conway ängstlich, als er Williamson in einem Abteil darüber untergebracht hatte. Er mußte seinen Helm gegen den des anderen drücken — das war die einzige Möglichkeit, sich ohne Radio verständlich zu machen. Ein paar Minuten lang bekam er keine Antwort, und dann war ein müdes, schmerzgequältes Flüstern zu hören. „Meine Arme tun weh. Ich bin müde“, sagte die Stimme. „Aber wenn… Sie mich… hineinbringen… bin ich wieder okay.“ Williamson hielt inne, seine Stimme schien von irgendwoher Kräfte zu sammeln, und dann fuhr er fort: „Das heißt, wenn im Hospital noch jemand lebt, um mich zu behandeln. Wenn Sie unseren Freund dort unten nicht aufhalten…“ Plötzliche Wut flammte in Conway auf. „Verdammt, verstehen Sie denn nie?“ brauste er auf. „Damit Sie das ein für allemal wissen — ich werde kein intelligentes Wesen töten! Mein Radio ist hin, also brauche ich mir Lister und Mannon nicht mehr anzuhören, und damit ich Sie zum Schweigen bringe, brauche ich bloß meinen Helm von dem Ihren wegzunehmen.“ Die Stimme des Monitors war wieder schwächer geworden. „Ich höre Mannon und Lister immer noch“, sagte er. „Sie sagen, die Stationen in Abschnitt acht sind jetzt betroffen worden — das ist die andere Niederschwerkraftabteilung. Patienten und Ärzte liegen auf dem Boden — gegen drei G kommen die nicht an. Noch ein paar Minuten, dann können sie überhaupt nicht mehr aufstehen — MSVKs sind nicht so kräftig, das wissen Sie ja…“ „Mund halten!“ schrie Conway und riß wütend seinen Helm weg. Als sein Ärger nachgelassen hatte und er wieder klar sehen konnte, stellte Conway fest, daß die Lippen des Monitors sich nicht mehr bewegten. Williamsons Augen waren geschlossen, sein Gesicht war schweißüberströmt und grau. Er schien nicht zu atmen. Die Trocknungschemikalien in seinem Helm verhinderten, daß die Gesichtsplatte sich beschlug, so daß Conway nicht genau sagen konnte, ob der Monitor tot war. Aber die Möglichkeit bestand zweifellos. Die zahlreichen Energiespritzen und dann seine Verletzungen — Conway hatte seinen Tod schon lange erwartet. Conway spürte, wie seine Augen brannten. Er hatte in den letzten paar Stunden soviel Tod und Verletzungen gesehen, daß seine Reaktion auf die Leiden anderer nur mehr die einer medizinischen Maschine war. Dieses Gefühl des Verlusts, dieses Bedauern für den Monitor mußte einfach eine Rückkehr seines normalen Empfindens sein und konnte nicht lange anhalten. Aber eines wußte er ganz bestimmt — niemand würde diese medizinische Maschine dazu bringen, einen Mord zu begehen. Conway wußte jetzt, daß das Monitor-Korps für viel mehr Gutes als Schlechtes verantwortlich war, aber er war kein Monitor. Doch O’Mara und Lister waren beides, Monitore und Ärzte, einer von ihnen sogar ein Arzt von galaxisweitem Ruf. Hältst du dich für besser, als sie es sind? fragte eine Stimme in seinem Bewußtsein. Und jetzt bist du ganz allein, fuhr die Stimme fort, und im Hospital herrscht ein chaotischer Zustand. In der ganzen Station sterben Leute, nur wegen dieses Wesens dort unten. Was glaubst du wohl, was du für Chancen hast, zu überleben? Der Weg, durch den du hereingekommen bist, ist mit Wrackteilen verstopft, also kann dir niemand zu Hilfe kommen. Du wirst also auch sterben. Ist es nicht so? Verzweifelt versuchte Conway, an seinem Entschluß festzuhalten, sich dahinter wie in einem Panzer abzukapseln. Aber diese drängende Stimme in seinem Gehirn versuchte, den Panzer zu durchdringen. So empfand er ungeheure Erleichterung, als er sah, wie die Lippen des Monitors sich wieder bewegten. Conway brachte seinen Helm mit dem des anderen in Berührung. „… für Sie natürlich schwer als Arzt“, kam schwach die Stimme. „Aber Sie müssen. Stellen Sie sich doch vor, Sie wären das Wesen dort unten, vor Furcht und Schmerzen halb verrückt, und dann würden Sie einen Augenblick normal, und jemand sagte Ihnen, was Sie getan haben — was Sie tun und wieviel denkende Wesen Sie umgebracht haben…“ Die Stimme schwankte und kehrte dann deutlicher zurück: „Würden Sie dann nicht lieber sterben wollen als weiter töten…?“ „Aber ich kann nicht…!“ „Würden Sie an seiner Stelle nicht sterben wollen?“ Conway spürte, wie seine Entschlossenheit schwand. Dann sagte er verzweifelt, in einem letzten Versuch, die schreckliche Entscheidung von sich wegzuschieben: „Nun, vielleicht. Aber ich könnte das Wesen ja, selbst wenn ich es versuchte, gar nicht umbringen. Womit denn? Es würde mich in Stücke reißen, ehe ich auch nur herankäme…“ „Ich habe eine Pistole“, sagte der Monitor. Conway konnte sich nicht erinnern, wie er die Feuerkontrollen einstellte, ja nicht einmal, wie er die Waffe aus dem Halfter des Monitors zog. Jedenfalls lag sie jetzt in seiner Hand und war auf den AACL unten gerichtet, und Conway fühlte sich übel. Er fror. Aber er hatte Williamson nicht ganz nachgegeben. Ganz in der Nähe lag eine Sprühdose mit schnell trocknendem Plastik. Wenn man damit schnell genug war, konnte man manchmal damit ein Wesen retten, dessen Anzug ein Loch bekommen hatte. Conways Plan war, das Wesen zu verwunden, es bewegungsunfähig zu machen und dann seinen Anzug mit der Klebemasse wieder abzudichten. Es würde natürlich auf Sekunden ankommen und für ihn sehr gefährlich sein, aber er würde jedenfalls das Wesen nicht bewußt töten. Er hob langsam die andere Hand, um die Waffe auf den Unterarm zu legen und zielte. Dann drückte er ab. Als er die Waffe senkte, war von dem Wesen nicht mehr viel übrig. Conway wünschte, er verstünde mehr von Waffen und hätte gewußt, daß diese Waffe hier Explosivgeschosse verschoß und auf Dauerfeuer eingestellt war. Williamsons Lippen bewegten sich wieder. Conway berührte seinen Helm rein instinktiv. Er war jetzt an einem Punkt angelangt, wo nichts mehr ihn beeindrucken konnte. „… es ist schon gut, Doktor“, sagte der Monitor. „Es ist niemand…“ „Jetzt ist es niemand mehr“, stimmte Conway ihm zu. Er untersuchte die Waffe des Monitors und wünschte, sie wäre nicht leer. Wenn noch eine Kugel in der Kammer gewesen wäre, nur eine, so wüßte er genau, was er damit getan hätte. „Wir wissen schon, daß es schwer war“, sagte Major O’Mara. Jetzt klang seine Stimme nicht mehr schnarrend, und in seinen Augen konnte man Mitgefühl und so etwas wie Stolz lesen. „Ein Arzt muß gewöhnlich eine solche Entscheidung erst treffen, wenn er viel älter ist, ausgeglichener, reifer. Sie sind, oder besser, Sie waren ein zu idealistisch eingestellter junger Mann — vielleicht ein wenig zu sehr von sich eingenommen — und hatten nicht die leiseste Ahnung, was ein Monitor wirklich ist.“ O’Mara lächelte. Seine Hände lagen auf eigentümlich väterliche Art auf Conways Schultern. Er fuhr fort: „Indem Sie das taten, wozu Sie sich zwangen, hätten Sie Ihre Karriere und Ihre geistige Ausgeglichenheit zerstören können. Aber es hat nichts zu sagen, Sie brauchen gar kein Schuldgefühl zu empfinden. Alles ist in Ordnung.“ Conway wünschte, er hätte seine Gesichtsplatte geöffnet und Schluß gemacht, ehe diese Ingenieure in die Schwerkraftzentrale gekommen waren, um ihn und Williamson zu O’Mara zu schleppen. O’Mara mußte verrückt sein. Er, Conway, hatte das Ethos seines Berufes verletzt und ein intelligentes Wesen getötet. Und da sagte dieser Mann, alles sei in Ordnung. „Hören Sie zu“, sagte O’Mara ernsthaft. „Die Leute von der Funkabteilung haben ein Bild vom Kontrollraum des abgestürzten Schiffes — ein Bild, auf dem man auch seinen Insassen sieht. Und dieser Insasse war nicht Ihr AACL, verstehen Sie. Es war ein AMSO, eine von den größeren Lebensformen, die gewöhnlich ein nicht intelligentes Wesen vom AACL-Typ als eine Art Haustier mit sich führen. Und hier im Hospital befinden sich augenblicklich keine AACLs, also war das Biest, das Sie getötet haben, einfach das Äquivalent zu einem vor Angst wild gewordenen Schoßhündchen in einem Schutzanzug.“ O’Mara schüttelte Conway an den Schultern, bis dessen Kopf schmerzte. „Fühlen Sie sich jetzt besser?“ Conway spürte, wie er langsam zum Leben erwachte. Er nickte wortlos. „Sie können gehen“, sagte O’Mara und lächelte. „Sie haben einigen Schlaf nachzuholen. Und was unsere kleine Aussprache angeht, fürchte ich, habe ich dafür jetzt keine Zeit. Erinnern Sie mich mal daran, wenn Sie glauben, daß wir uns noch unterhalten müssen…“ 17 Während der vierzehn Stunden, die Conway schlief, verringerte sich der Eingang von Verwundeten beträchtlich, und dann kam die Nachricht, daß der Krieg vorüber sei. Monitoringenieure und Pioniere räumten die Wrackteile weg und reparierten die beschädigte Außenhülle. Als wieder normaler Luftdruck hergestellt war, gingen die Reparaturarbeiten im Innern der Station schnell vonstatten, und so sah Conway, als er erwachte und nach Dr. Mannon suchte, in einigen Abteilungen, die vor Stunden ein finsteres luftloses Durcheinander von Wrackteilen gewesen waren, bereits wieder Patienten. Er fand seinen Vorgesetzten in einem Seitenzimmer, das an die FGLI-Unfallstation anschloß. Mannon arbeitete an einem gefährlich verbrannten DBLF, dessen raupenartiger Körper auf einem Operationstisch, der für die wesentlich massiveren tralthanischen FGLIs bestimmt war, zwergenhaft wirkte. Zwei weitere DBLFs unter Narkose waren als kleine weiße Erhebungen auf einem ähnlich übergroßen Bett an der Wand zu sehen, und ein vierter lag zuckend auf einer Tragbahre bei der Tür. „Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?“ sagte Mannon mit einer Stimme, die zu müde war, um noch ärgerlich zu klingen. Ehe Conway antworten konnte, fuhr er ungeduldig fort: „Ach was, sagen Sie mir’s erst gar nicht. Jeder nimmt hier dem anderen die Leute weg, und junge Internisten müssen tun, was man ihnen aufträgt…“ Conway spürte, wie sein Gesicht sich rötete. Plötzlich schämte er sich der vierzehn Stunden Schlaf, war aber zu feige, um Mannons Irrtum zu korrigieren. So sagte er nur: „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ „Ja“, sagte Mannon und deutete auf seine Patienten. „Aber das wird ziemlich schwierig werden. Eine ganze Menge Punktierungen und Läsionen, und zwar ziemlich tief. Metallfragmente im Körper, Abdominalschäden und starke innere Blutungen. Sie werden wohl ein Band brauchen. Holen Sie’s. Und dann kommen Sie sofort wieder!“ Ein paar Minuten darauf fand er sich in O’Maras Büro und nahm das DBLF-Physiologieband in sich auf. Diesmal zuckte er nicht, als die Hände des Majors ihn berührten. Als ihm das Kopfband abgenommen wurde, fragte er: „Wie geht’s Williamson?“ „Er kommt schon durch“, antwortete O’Mara trocken. „Ein Diagnostiker hat ihm die Knochenbrüche eingerichtet. Williamson wird es nicht wagen, zu sterben…“ Conway begab sich so schnell wie möglich wieder zu Mannon. Er empfand wieder jene charakteristische geistige Doppelsicht und mußte dem Drang widerstehen, auf dem Bauche zu kriechen. Das DBLF-Band zeigte also bereits die erste Reaktion. Die raupenähnlichen Bewohner von Kelgia waren in ihrem Metabolismus und Temperament den Erdmenschen sehr ähnlich. Er empfand also wesentlich weniger Verwirrung als mit dem Telfiband von früher. Die Begriffe „Pistole“, „Kugel“ und „Ziel“ waren ganz einfach — man brauchte nur zu zielen, den Abzug zu betätigen, und das Ziel war tot oder verletzt. Die Kugel dachte überhaupt nicht. Das Wesen, das die Waffe bediente, nicht genug, und das Ziel — litt. Conway hatte in letzter Zeit zu viele verletzte Wesen gesehen und Metallstücke, die sich in sie gebohrt und Wunden gerissen hatten. Und hinzu kam noch der lange schmerzhafte Prozeß der Entfernung. Jedermann, der einem denkenden, fühlenden Wesen solchen Schaden zufügte, verdiente eine viel schmerzhaftere Strafe als die psychiatrische Korrektur des Monitordienstes. Noch vor ein paar Tagen hätte Conway sich solcher Gedanken geschämt. Das tat er auch jetzt in geringem Maße. Er fragte sich, ob die Ereignisse der letzten Tage in ihm einen Prozeß moralischer Degenerierung ausgelöst hatten oder ob er einfach anfing, erwachsen zu werden? Nach fünf Stunden waren sie fertig. Mannon gab der Schwester Anweisung, die vier Patienten nicht aus dem Auge zu lassen, befahl ihr jedoch, vorher etwas zum Essen zu holen. Nach wenigen Minuten war sie mit einem großen Paket Sandwiches zurück und berichtete, daß ihre Kantine von einem tralthanischen Arzt zu einem Not-OP-Saal erklärt worden sei. Kurz darauf schlief Dr. Mannon über einem zweiten Sandwich ein. Conway lud den Mann auf eine Bahre und brachte ihn in sein Zimmer. Unterwegs wurde er von einem tralthanischen Diagnostiker angehalten, der ihm befahl, sich sofort in eine DBGD-Unfallstation zu begeben. Diesmal arbeitete Conway an Angehörigen seiner eigenen Spezies, und sein Reifeprozeß — oder Degenerationsprozeß — nahm zu. Mit der Zeit kam er zu der Ansicht, daß das Monitor-Korps mit manchen Leuten viel zu sanft umging. Drei Wochen darauf herrschten auf Sektor 12 wieder normale Zustände. Sämtliche Patienten, mit Ausnahme der Schwerverwundeten, waren in planetarische Krankenhäuser überwiesen worden. Der bei dem Zusammenstoß mit dem Raumschiff verursachte Schaden war repariert, und der tralthanische Arzt hatte die Kantine geräumt, so daß Conway nicht mehr im Stehen oder auf Tragbahren sitzend zu essen brauchte. Aber wenn auch für das Hospital, als Ganzes gesehen, wieder normale Zustände herrschten, so konnte Conway das von sich persönlich nicht behaupten. Er wurde völlig vom Stationsdienst befreit und einer gemischten Gruppe von Erdmenschen und ETs zugewiesen — die meist älter als er selbst waren — um einen Kurs in Schiffsrettung mitzumachen. Einige der Schwierigkeiten, die auftraten, zum Beispiel Überlebende aus Schiffswracks zu bergen — besonders aus solchen, die noch funktionierende Kraftquellen besaßen — öffneten Conway die Augen. Der Kurs endete mit einer interessanten, wenn auch anstrengenden Übung, die er bestand, worauf sich ein mehr theoretischer Kurs in vergleichender ET-Philosophie anschloß. Gleichzeitig nahm er an einem Kurs über Verseuchungsprobleme teil; was war zu tun, wenn die Methanabteilung ein Leck bekam und die Temperatur über einhundertvierzig Grad F anzusteigen drohte — was war zu tun, wenn ein Chloratmer Sauerstoff ausgesetzt wurde oder ein Wasseratmer in Luft erstickte oder umgekehrt. Conway schauderte bei dem bloßen Gedanken, daß einer seiner Mitschüler ihm künstliche Atmung geben sollte — einige von ihnen wogen immerhin eine halbe Tonne — aber zum Glück gab es am Ende dieses Kurses keine Übungen. Jeder einzelne Dozent betonte, wie wichtig es sei, hereinkommende Patienten schnell und exakt zu klassifizieren, da solche Patienten sehr oft nicht imstande waren, diese Information selbst zu geben. In dem heute allgemein üblichen Vierbuchstabensystem zeigte der erste Buchstabe den allgemeinen Metabolismus, der zweite Zahl und Verteilung der Glieder und Sinnesorgane und der Rest eine Kombination von Druck- und Schwerkrafterfordernissen an, die wiederum auf die physische Masse und Form der Schutzhaut hinwiesen, die das Wesen besaß. Die Buchstaben A, B und C an erster Stelle deuteten auf Wasseratmer. D bis F auf warmblütige Sauerstoffatmer — eine Klassifikation, der die meisten intelligenten Rassen angehörten. G bis K waren ebenfalls Sauerstoffatmer, aber insektenartige Wesen von Welten mit geringer Schwerkraft. L und M atmeten ebenfalls Sauerstoff, waren aber vogelartig. Die Chloratmer waren in den Gruppen O und P vertreten. Anschließend kamen wirklich ausgefallene Wesen — Strahlungsesser, Starrblütler oder Kristallwesen, Kreaturen, die willkürlich ihre Gestalt ändern konnten und solche, die verschiedene Arten außersinnlicher Kräfte besaßen. Telepathische Spezies wie die Telfi bekamen den Vorsatz V. Man erwartete von Conway und seinen Kommilitonen, aus einem höchstens drei Sekunden an die Wand projizierten Bild, das vielleicht einen Körperteil oder einen Hautschnitt eines ET zeigte, die genaue Klassifikation des betreffenden Wesens zu erkennen. Wenn diese Antwort nicht wie aus der Pistole geschossen kam, war mit höchst sarkastischen Bemerkungen zu rechnen. Das war alles hochinteressant, aber Conway begann sich langsam Sorgen zu machen, als ihm bewußt wurde, daß sechs Wochen verstrichen waren, ohne daß er einen Patienten auch nur gesehen hatte. Er beschloß mit O’Mara darüber zu sprechen und zu fragen — natürlich auf respektvolle und nicht direkt als Frage erkennbare Art und Weise —, was das Ganze zu bedeuten hatte. „Natürlich wollen Sie wieder in Ihre Station zurück“, sagte O’Mara, als Conway schließlich zur Sache gekommen war. „Dr. Mannon möchte Sie auch haben. Aber es könnte ja sein, daß ich Arbeit für Sie habe und deshalb nicht möchte, daß Sie sich woanders betätigen. Aber Sie brauchen nicht zu glauben, daß Sie Ihre Zeit verschwenden. Sie lernen hier etwas sehr Nützliches, Doktor. Das hoffe ich wenigstens. Ende.“ Als Conway den Hörer des Interkoms auflegte, dachte er, daß viele von den Dingen, die er lernte, mit Major O’Mara selbst zu tun hatten. Es handelte sich natürlich nicht um Vorlesungen über den Chefpsychologen, aber das hätten sie leicht sein können, denn O’Mara tauchte bei jeder Lektion irgendwie auf. Erst jetzt wurde ihm klar, wie nahe ihn sein Verhalten in der Telfi-Episode einer Ausstoßung aus dem Hospital gebracht hatte. O’Mara hatte im Monitor-Korps den Rang eines Majors inne, aber Conway hatte mit der Zeit erfahren, wie schwierig es war, seine Autorität näher zu umschreiben. Als Chefpsychologe war er für das geistige Wohlbefinden all der verschiedenartigen Individuen und Spezies des Personals verantwortlich und auch dafür, daß sich zwischen ihnen keine Reibungen ergaben. Und bei aller Toleranz und allem gegenseitigen Respekt gab es immer noch Gelegenheiten, wo es zu solchen Reibungen kam: Gefährliche Situationen, entstanden durch Unwissenheit oder Mißverständnisse, oder ein Wesen entwickelte xenophobische Neurosen, die seine geistige Stabilität oder seine Leistungsfähigkeit beeinträchtigten. Es konnte zum Beispiel vorkommen, daß ein Arzt, der eine unbewußte Angst vor Spinnen empfand, es einfach nicht über sich brachte, einen illensanischen Patienten mit der nötigen Objektivität zu sehen, die für seine Behandlung erforderlich war. Also war es O’Maras Aufgabe, Spuren solcher Schwierigkeiten zu entdecken und zu beseitigen oder — wenn alles andere mißlang — das potentiell gefährliche Individuum zu entfernen, ehe aus solchen Reibungen offener Konflikt wurde. Und diese Wacht gegen falsches, ungesundes oder intolerantes Denken war eine Pflicht, der er sich mit solchem Eifer unterzog, daß viele von Conways Kollegen ihn mit einem Großinquisitor der modernen Zeit verglichen. Der Umstand, daß der Major ihn aus dem Stationsdienst entfernt hatte, konnte eine Beförderung, aber auch eine Degradierung bedeuten. Da Mannon ihn jedoch zurückhaben wollte, mußte die Aufgabe, die O’Mara für ihn in petto hatte, von größerer Wichtigkeit sein. Daraus schloß Conway mit ziemlicher Sicherheit, daß er von O’Mara keine Schwierigkeiten zu erwarten hatte, und das war recht angenehm. Aber die Neugierde brachte ihn halb um. Am nächsten Morgen erhielt er die Anweisung, sich im Büro des Chefpsychologen zu melden. 18 Es mußte einer der großen Kolonialtransporter des Typs gewesen sein, die vier Generationen Kolonisten zu den Sternen getragen hatten, ehe der Hyperantrieb solche Riesenschiffe überflüssig gemacht hatte, dachte Conway, als er auf das riesige, tropfenförmige Gebilde blickte, das man durch das Bullauge neben O’Maras Schreibtisch sehen konnte. Mit Ausnahme der Pilotenkabine waren seine Beobachtungsgalerien und Bullaugen mit dicken Metallplatten verschlossen und von außen mit kräftigen Bolzen befestigt, um beträchtlichem inneren Druck zu widerstehen. Selbst neben dem mächtigen Bauwerk von Sektor 12 wirkte er riesig. „Ihre Aufgabe wird es sein, als Verbindungsmann zwischen dem Hospital und dem Arzt und dem Patienten von diesem Schiff zu fungieren“, sagte Chefpsychologe O’Mara, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Der Arzt ist ein ziemlich kleines Lebewesen. Der Patient ist ein Dinosaurier.“ Conway war bemüht, sein Erstaunen nicht zu zeigen. O’Mara analysierte seine, Conways, Reaktionen, das wußte er, und er empfand eine beinahe perverse Freude daran, dem anderen das Leben so schwer wie möglich zu machen. So sagte er nur: „Und was fehlt ihm?“ „Nichts“, sagte O’Mara. „Dann muß es psychologischer Natur…?“ O’Mara schüttelte den Kopf. „Was hat aber ein gesundes, geistig normales und intelligentes Wesen in einem Hos —“ „Es ist nicht intelligent.“ Conway atmete langsam ein und aus. O’Mara spielte offenbar wieder Rätselraten mit ihm — nicht, daß das Conway etwas ausmachte, solange man ihm wenigstens eine Chance gab, die richtige Antwort zu erraten. Er blickte wieder zu dem mächtigen Transporter hinaus und überlegte. Der Einbau eines Hyperantriebs in diesen Kloß mußte Geld gekostet haben und diese strukturellen Veränderungen noch eine ganze Menge mehr. „Ich hab’s!“ sagte Conway und grinste. „Ein neues Spezimen, das wir auseinandernehmen und untersuchen sollen…“ „Großer Gott, nein!“, rief O’Mara erschreckt. Er blickte schnell, beinahe ängstlich auf eine kleine Plastikkugel, die, halb versteckt von ein paar Büchern, auf seinem Tisch stand, und fuhr dann ernsthaft fort: „Die ganze Geschichte ist auf höchster Ebene beschlossen worden — eine Sonderkommission des galaktischen Rates hat sich damit befaßt. Was das Ganze zu bedeuten hat, weiß weder ich noch sonst jemand im Sektor 12. Vielleicht wird es Ihnen der Arzt, der den Patienten begleitet hat und in dessen Obhut er sich befindet, eines Tages erzählen…“ O’Maras Ton war zu entnehmen, daß er diesbezüglich starke Zweifel hegte. „… aber vom Hospital und Ihnen erwartet man nur Unterstützung, sonst nichts.“ Es schien, daß das Wesen, das in diesem Falle der Arzt war, einer erst kürzlich entdeckten Rasse angehörte. Man habe ihm die Klassifikation VUXG gegeben, meinte O’Mara, das hieß, es handelte sich um eine Lebensform mit gewissen Psi-Eigenschaften. Die Angehörigen dieser Spezies waren klein und beinahe unzerstörbar. Der VUXG-Arzt war telepathisch, aber seine Ethik verbot ihm, seine Fähigkeiten dafür einzusetzen, mit nichttelepathischen Lebewesen Verbindung aufzunehmen, obwohl die erdmenschliche Frequenz in seinem Bereich enthalten war. Aus diesem Grunde würde ausschließlich der Translator benutzt werden. Dieser Arzt gehörte einer Spezies an, die sowohl individuell gesehen als auch, was ihre aufgezeichnete Geschichte betraf, von langer Lebensdauer war. Und in diesem ganzen langen Zeitraum hatte es keine Kriege gegeben. Sie war eine alte, weise und demütige Rasse, schloß O’Mara; ungemein demütig. In solchem Maße, daß sie dazu neigte, auf andere Rassen herabzusehen, die nicht so demütig waren. Conway würde sehr taktvoll sein müssen, denn diese extreme, diese beinahe erdrückende Demut konnte leicht für etwas anderes gehalten werden. Conway sah O’Mara scharf an. War da in diesen scharfen eisengrauen Augen nicht eine Spur von Ironie zu sehen? Und dann sah er O’Mara blinzeln. Conway tat, als bemerkte er es nicht und meinte: „Die kommen mir ja recht überspannt vor.“ Er sah, wie O’Maras Lippen zuckten, und dann war plötzlich eine neue Stimme zu hören. Sie war ausdruckslos und blechern — eine Stimme aus einem Translator. Sie dröhnte: „Der Sinn dieser Bemerkung ist mir nicht klar. Wir sind überspannt — gespannt? — worüber?“ Eine kurze Pause und dann: „Ich räume zwar ein, daß meine eigenen geistigen Fähigkeiten gering sind, möchte jedoch gleichzeitig in aller Demut darauf hinweisen, daß der Fehler nicht ganz allein bei mir liegt, sondern in gewissem Maße auch der bedauernswerten Tendenz jüngerer und weniger praktisch eingestellter Rassen zugeschrieben werden kann, sinnlose Geräusche zu machen, wenn es überhaupt nicht nötig ist, ein Geräusch von sich zu geben.“ Conways Augen suchten den ganzen Raum ab und blieben schließlich an dem durchsichtigen Plastikbehälter auf O’Maras Schreibtisch haften. Jetzt, wo er ihn genau betrachtete, sah er, daß der Plastikbehälter mit Gurten versehen war. Außerdem erkannte er die unmißverständliche Form einer Translatoreinheit. In dem Behälter schwebte etwas… „Dr. Conway“, sagte O’Mara trocken, „darf ich Sie Dr. Arretapec, Ihrem neuen Chef, vorstellen.“ Das Ding in der Plastikkugel, das man am besten mit einer vertrockneten Pflaume, umgeben von einem kugelförmigen Sirupklumpen, vergleichen konnte, war der VUXG-Doktor! Conway spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Da eine äußerst enge Zusammenarbeit erforderlich ist“, fuhr O’Mara schnell fort, „und das Wesen Arretapec nur von äußerst geringer Masse ist, werden Sie es im Dienst tragen.“ Mit diesen Worten schnallte O’Mara den Behälter auf Conways Schultern. Als er damit fertig war, fügte er hinzu: „Sie können jetzt gehen, Dr. Conway. Detaillierte Anweisungen werden Sie, wenn nötig, von Dr. Arretapec direkt erhalten.“ Das konnte auch nur hier passieren, dachte Conway benommen, als sie das Büro verließen. Da stand er jetzt mit einem ET-Arzt auf der Schulter, und ihr Patient war ein gesunder, kräftiger Dinosaurier. Der Zweck der ganzen Geschichte war nur seinem Kollegen klar, und dieser schien keine Lust zu verspüren, ihn einzuweihen. Auf ihrem Weg zu Schleuse siebzehn, der Stelle, wo das Schiff mit ihrem Patienten an das Hospital angekuppelt war, versuchte Conway, dem extraterrestrischen Arzt die Hospital-Organisation zu erklären. Dr. Arretapec stellte von Zeit zu Zeit sinnvolle Fragen, schien sich also für eine Erklärung zu interessieren. Obwohl er damit gerechnet hatte, war Conway doch von der ungeheuren Größe und Weitläufigkeit des umgebauten Transporters beeindruckt. Mit Ausnahme der zwei Decks unmittelbar an der Außenwand des Schiffes, wo sich im Augenblick die Schwerkraftgeneratoren befanden, hatten die Ingenieure des Monitor-Korps alles weggeschnitten, um einen kugelförmigen freien Raum von zweitausend Fuß Durchmesser zu bekommen. Die innere Fläche dieser Kugel war ein feuchtes, schlammiges Chaos. Riesige Haufen entwurzelter Vegetation waren planlos verstreut und größtenteils in den Schlamm getrampelt. Conway stellte auch fest, daß der größte Teil davon im Aussterben begriffen war. Nach der glitzernden, antiseptischen Sauberkeit, an die er gewohnt war, war das für Conway ein ziemlicher Schock. Er begann, sich nach dem Patienten umzusehen. Sein Blick schweifte über ungeheure Flächen Schlamm und Vegetation, bis er hoch über seinem Kopf auf der entgegengesetzten Seite der Kugel einen kleinen, tiefen See erkannte. Unter seiner Oberfläche bewegte sich etwas. Plötzlich durchbrach ein winziger Kopf auf einem langen, schlangenartigen Hals die Oberfläche, sah sich um und tauchte platschend wieder unter. Conway schätzte die Entfernung zu dem See und das Terrain dazwischen ab und sagte: „Das ist zu Fuß sehr weit. Ich hole uns einen Schwerkraftgürtel…“ „Das wird nicht nötig sein“, meinte Arretapec. Der Boden sank plötzlich unter ihnen zurück, und sie rasten auf den fernen See zu. Klassifikation VUXG, erinnerte sich Conway, als er wieder Luft holte, besitzt gewisse Psi-Fähigkeiten… 19 Sie landeten sanft am Rande des Sees. Arretapec sagte Conway, er wolle sich ein paar Minuten scharf konzentrieren und bat ihn, sich deshalb ruhig zu verhalten. Nach ein paar Sekunden empfand Conway irgendwo im Ohr einen Juckreiz, widerstand jedoch mannhaft dem Drang, sich zu kratzen, sondern konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Oberfläche des Sees. Plötzlich durchbrach ein großer, bergartiger, graubrauner Körper die Oberfläche, und ein langer, sich nach vorne zu verjüngender Hals und ein ebenso langer Schweif peitschten die Wellen. Einen Augenblick dachte Conway, das große Tier wäre einfach wie ein Gummiball an die Oberfläche geschnellt, überlegte dann aber, daß das Monstrum sich vermutlich vom Boden abgestoßen hatte und dadurch den gleichen Effekt erzielt hatte. Immer noch mit Hals, Schweif und vier massiven, säulenartigen Beinen wie wild um sich schlagend, erreichte das riesige Reptil das Ufer des Sees, um von dort aus auf oder besser in den Schlamm zu trampeln, da es bis zu den Kniegelenken einsank. Conway schätzte, daß besagte Kniegelenke mindestens zehn Fuß vom Boden entfernt waren und daß der dickste Durchmesser des großen Leibes etwa sechs Meter betrug und das Scheusal von Kopf bis Schweifende gut über dreißig Meter maß. Sein Gewicht schätzte er auf etwa achtzigtausend Pfund. Es besaß keinen natürlichen Körperpanzer, aber das äußerste Ende seines Schweifs, der für ein so schweres Glied überraschend beweglich war, lief in eine knochenartige Verdickung aus, aus der zwei bösartig aussehende, nach vorn gekrümmte Knochenspitzen herausragten. Das riesige Reptil wühlte den Schlamm in sichtlicher Erregung auf. Dann fiel es abrupt auf die Knie, und sein großer Hals krümmte sich nach innen, bis der Kopf unter dem Leib verschwand. „Es hat schreckliche Angst“, sagte Arretapec. „Diese Umweltbedingungen sind ihm fremd.“ Conway konnte das dem Tier nachfühlen. „Ist der geistige Zustand des Patienten für Ihre Arbeit wichtig?“ fragte Conway. „Sogar in sehr starkem Maße“, sagte Arretapec. „Dann sollten wir zuerst dafür sorgen, daß er sich etwas wohler fühlt“, meinte Conway und kauerte sich nieder. Er nahm eine Probe des Seewassers, des Schlamms und ein paar Teile der herumliegenden Vegetation. Schließlich richtete er sich auf und fragte: „Haben wir sonst hier noch etwas zu tun?“ „Ich kann im Augenblick gar nichts tun“, antwortete Arretapec. Die übersetzte Stimme klang natürlich ton- und gefühllos, aber Conway glaubte, ihr trotzdem zu entnehmen, daß Arretapec schwer enttäuscht war. An der Eingangsschleuse der Station angekommen, eilte Conway auf den Speisesaal für warmblütige, sauerstoffatmende Lebewesen zu. Er hatte Hunger. Die meisten seiner Kollegen waren im Saal — DBLF-Raupen, erdmenschliche DBGDs wie er selbst, und der große, elefantenartige Tralthaner — Klassifikation FGLI — der mit dem kleinen OTSB, der mit ihm in Symbiose lebte, auf dem besten Wege war, in die erhabene Klasse der Diagnostiker befördert zu werden. Anstatt sich aber an der allgemeinen Unterhaltung zu beteiligen, konzentrierte Conway sich darauf, soviel wie möglich über den Herkunftsplaneten seines Reptilpatienten zu erfahren. Um die Unterhaltung zu erleichtern, hatte er Arretapec aus dem Plastikbehälter genommen und ihn zwischen die Kartoffeln und die Soßenschüssel auf den Tisch gestellt. Am Ende der Mahlzeit stellte Conway erschreckt fest, daß das Wesen ein Loch in den Tisch gebohrt hatte. „Wenn ich in Gedanken bin“, erklärte Arretapec auf Conways erschreckte Frage, „verläuft bei uns der Nahrungsaufnahme- und verdauungsprozeß automatisch und unbewußt. Wir betrachten das Essen nicht als Vergnügen, wie Sie das offenbar tun, da es unsere Denkprozesse trüben würde. Aber wenn ich Schaden angerichtet habe…?“ Conway versicherte dem Kleinen schnell, daß unter den gegebenen Umständen ein Plastiktischtuch relativ wertlos war und verließ schleunigst den Saal. Daß das Küchenpersonal darüber anderer Meinung sein würde, erklärte er Arretapec lieber nicht. Nach dem Essen holte sich Conway die Analyse seiner Testmuster und begab sich dann zum Büro des Leiters der Pionierabteilung. Er fand dort einen der nidianischen Teddybären mit einem goldgesäumten Armband sowie einen Erdmenschen in Monitorgrün, dessen Kragen die Rangabzeichen eines Oberst und den stilisierten Blitz des Ingenieurkorps trug. Conway schilderte ihnen die Situation und seine Wünsche. „Das läßt sich machen“, sagte der rote Teddybär, nachdem sie gemeinsam Conways Skizze untersucht hatten, „aber…“ „O’Mara hat gesagt, Kosten spielen keine Rolle“, unterbrach Conway. „In diesem Fall können wir es machen“, erklärte der Monitoroberst und nickte. „Transporter, um das Zeug von seinem Heimatplaneten zu holen — das ist auf lange Sicht gesehen billiger und schneller, als die Nahrung hier synthetisch zu erzeugen. Und dann brauchen wir zwei Kompanien der Ingenieursabteilung mit Robotern, um aus dem Schiff ein gemütliches Heim für Ihren Patienten zu machen — beim erstenmal hatten wir nur zwanzig Leute.“ Seine Augen verengten sich, und man sah ihm an, daß er eine Berechnung anstellte. Und dann kam die Antwort: „Drei Tage.“ An der nächsten Tür war ein Schild mit der Aufschrift „Leitender Diätologe — Spezies DBGD, DBLF und FGLI, Dr. K. W. Hardin“, befestigt. Als Conway eintrat, hob Dr. Hardin seinen weißhaarigen Kopf und fuhr ihn an: „Was haben Sie denn für Kummer…?“ Conway war zwar von Dr. Hardin sehr beeindruckt, empfand für ihn auch großen Respekt, hatte jedoch keine Angst mehr vor ihm. Der Chefdiätologe war ein Mann, der Fremden gegenüber äußerst charmant sein konnte, das wußte Conway. Zu Leuten dagegen, die er kannte, pflegte er meist recht ruppig zu sein, und Freunden gegenüber war er ausgesprochen unhöflich. Conway versuchte, sein Problem in so wenig Worte wie möglich zu fassen. „Sie meinen, ich soll das ganze Zeug, das das Tier aufgefressen hat, noch einmal neu pflanzen, damit es glaubt, es sei natürlich gewachsen?“ unterbrach ihn Hardin einmal. „Was, zum Teufel, glauben Sie eigentlich, wer ich bin? Und wieviel frißt denn diese dreckige Kuh überhaupt?“ Conway nannte die Zahlen, die er ermittelt hatte. „Dreieinhalb Tonnen Palmblätter pro Tag!“ brüllte Hardin und sprang auf. „Und zarte grüne Schößlinge… Großer Gott im Himmel! Und da sagt man immer, Diätetik sei eine exakte Wissenschaft. Dreieinhalb Tonnen Blätter. Ha…!“ Sie verließen Hardin. Conway wußte, daß alles planmäßig ablaufen würde, denn der Diätologe war bis zum Ende unfreundlich geblieben. Dem VUXG erklärte Conway, daß Hardin keineswegs Schwierigkeiten gemacht habe, es habe nur so geklungen. Er sei ebenso hilfsbereit gewesen wie die beiden anderen. Arretapec antwortete, daß Angehörige derart unreifer und kurzlebiger Rassen sich ja naturgemäß wie Wahnsinnige benehmen müßten. Dann folgte ein zweiter Besuch bei ihrem Patienten. Diesmal brachte Conway einen Gravitationsgürtel mit und war so mit von Arretapecs Teleportationskünsten unabhängig. Sie schwebten über dem großen Fleisch- und Knochenberg herum, aber Arretapec berührte das Tier nie. Nichts geschah, nur daß der Patient wieder Zeichen von Erregung zeigte und Conway den Juckreiz im Ohr empfand. Er warf einen Blick auf die Skala an seinem Unterarm, um zu sehen, ob sich irgendein Fremdkörper in seinem Blutkreislauf befand, aber alles war normal. Vielleicht war er Dinosauriern gegenüber nur allergisch. Wieder im Hospital angekommen, stellte Conway fest, daß er so häufig und kräftig gähnen mußte, daß er Angst hatte, sich den Unterkiefer zu verrenken. Erst jetzt wurde ihm klar, daß er einen anstrengenden Tag hinter sich hatte. Arretapec war der Begriff Schlaf völlig fremd, aber das Wesen hatte keinerlei Einwendungen, wenn Conway schlief, sofern das für sein Wohlbefinden nötig war. Conway versicherte ihm ernsthaft, daß das sehr wohl der Fall sei und begab sich auf dem schnellsten Weg in seine Kabine. Eine Weile beunruhigte ihn die Frage, was er mit Dr. Arretapec tun sollte. Der VUXG war eine wichtige Persönlichkeit. Er konnte ihn nicht gut in einen Schrank oder irgendwo in eine Ecke stellen, obwohl das Wesen dort keinerlei Unbequemlichkeit empfunden hätte. Ebensowenig konnte er ihn aber die Nacht über hinausstellen, ohne seine Gefühle zu verletzen — zumindest wären in umgekehrter Lage seine Gefühle verletzt worden. Er wollte, O’Mara hätte ihm diesbezügliche Anweisungen gegeben. Schließlich stellte er das Wesen auf seinen Schreibtisch und vergaß es. Arretapec mußte in dieser Nacht tief nachgedacht haben, denn am Morgen fand Conway ein drei Zoll tiefes Loch in der Tischplatte. 20 Am Nachmittag des zweiten Tages kam es zwischen den beiden Ärzten zum Streit. Wenigstens betrachtete Conway es als Streit; als was Arretapec es ansah, stand natürlich auf einem anderen Blatt. Es begann damit, daß der VUXG Conway bat, ruhig zu sein, während er sich wieder konzentrierte. Das Wesen hatte seinen alten Platz auf Conways Schulter eingenommen. Es hatte erklärt, es könne sich besser konzentrieren, wenn es nicht einen Teil seiner geistigen Kapazität darauf verwenden müsse, sich schwebend zu erhalten. Conway war dem Wunsch wortlos nachgekommen. Aber da fing das Jucken in seinem Ohr wieder an, und zwar schlimmer als je zuvor. Er bemerkte die Fontänen von Schlamm und Wasser kaum, die der Dinosaurier aufwühlte, als er sich seinen Weg ans Ufer bahnte. Der nagende Schmerz nahm an Intensität zu, bis Conway plötzlich mit einem Wutschrei an sein Ohr griff und darin herumzubohren begann. Das brachte ihm zwar sofort Linderung, aber… „Wenn Sie so herumzappeln, kann ich nicht arbeiten“, sagte Arretapec. Man konnte nur der Schnelligkeit seiner Rede anmerken, wie erregt er war. „Ich bin nicht herumgezappelt“, protestierte Conway ärgerlich. „Mein Ohr juckte, und ich…“ „Ein Juckreiz, besonders wenn er Sie zu einer solch nickartigen Bewegung veranlaßt, ist ein Symptom einer physischen Schwäche, die behandelt werden sollte“, unterbrach ihn der VUXG. „Oder er ist von einem parasitischen oder symbiotischen Lebewesen verursacht, das, vielleicht ohne daß Sie das wissen, sich auf Ihrem Körper befindet. Ich habe aber ausdrücklich verlangt, daß mein Assistent in physischer Hinsicht völlig gesund sein müsse und unter keinen Umständen einer Spezies angehören dürfe, die bewußt oder unbewußt Parasiten beherbergt. Sie müssen nämlich wissen, daß solche Spezies besonders zappelig sind. Sie können also meinen Ärger verstehen. Wenn Sie sich nicht plötzlich bewegt hätten, hätte ich vielleicht etwas erreicht. Also gehen Sie.“ „Sie überspannter…“ Der Dinosaurier wählte diesen Augenblick, um wieder in das seichte Wasser zu stampfen, auszurutschen und klatschend auf den Bauch zu fallen. Eine Fontäne von Dreck und Gischt durchnäßte Conway von Kopf bis Fuß. Diese Ablenkung genügte, um ihn innehalten zu lassen. Dann wurde ihm klar, daß er nicht persönlich beleidigt worden war. Es gab viele intelligente Spezies, die Parasiten beherbergten — einige von ihnen waren sogar für die Gesundheit und das Wohlergehen des Wirts nötig. Vielleicht hatte Arretapec ihn beleidigen wollen, aber mit Bestimmtheit ließ sich das nicht sagen. Und der VUXG war schließlich eine sehr wichtige Person. „Was hätten Sie denn erreicht?“ fragte Conway sarkastisch. Er war immer noch wütend, hatte aber beschlossen, auf professioneller und nicht persönlicher Ebene zu kämpfen. Außerdem wußte er, daß der Translator seine Worte ohnehin aller beleidigender Untertöne entkleiden würde. „Was versuchen Sie denn zu erreichen, und wie wollen Sie es tun, indem Sie nur — wenigstens scheint es mir so — den Patienten ansehen?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen“, antwortete Arretapec nach ein paar Sekunden. „Mein Ziel ist groß. Es ist für die Zukunft. Das würden Sie nie verstehen.“ „Woher wissen Sie das? Wenn Sie mir sagten, was Sie tun, könnte ich Ihnen vielleicht helfen.“ „Sie können mir nicht helfen.“ „Hören Sie“, sagte Conway gereizt, „Sie haben ja noch nicht einmal versucht, alle Mittel des Hospitals einzusetzen. Ganz gleich, was Sie mit Ihrem Patienten vorhaben, der erste Schritt hätte eine gründliche Untersuchung sein müssen — Röntgenstrahlen, Biopsien, dann hätten Sie wertvolle physiologische Angaben bekommen, auf denen Sie die weitere Arbeit aufbauen könnten.“ „Um es also einfach darzustellen“, unterbrach ihn Arretapec, „Sie wollen sagen, daß man einen komplizierten Organismus oder Mechanismus zuerst in seine Einzelteile zerlegen muß, um ihn individuell zu verstehen. Meine Rasse ist nicht der Ansicht, daß ein Gegenstand teilweise zerstört werden muß, ehe man ihn verstehen kann. Ihre primitiven Untersuchungsmethoden sind für mich deshalb wertlos. Ich schlage vor, daß Sie mich verlassen.“ Conway machte wütend auf dem Absatz kehrt und ging. Sein erster Impuls war, in O’Maras Büro zu stürmen und dem Chefpsychologen zu sagen, er solle einen anderen Botenjungen für den VUXG finden. Aber O’Mara hatte ihm gesagt, daß seine augenblickliche Aufgabe wichtig sei, und O’Mara würde nicht gerade gut auf ihn zu sprechen sein, wenn er glaubte, daß Conway nur aufgab, weil seine Neugierde nicht befriedigt oder sein Stolz verletzt worden waren. Es gab genügend Ärzte — besonders die Assistenten von Diagnostikern — die die Patienten ihrer Vorgesetzten nicht berühren durften. Oder kam es vielleicht nur daher, daß Conway nicht gerne ein Wesen wie Arretapec als Vorgesetzten hatte…? Wenn Conway in seinem augenblicklichen Gemütszustand zu O’Mara ging, bestand die Gefahr, daß der Psychologe schloß, er sei dem Temperament nach für seine Position ungeeignet. Und wenn O’Mara ihn in irgendein planetarisches Hospital schickte, würde das die größte Tragödie in Conways Leben bedeuten. Aber wenn er nicht zu O’Mara gehen konnte, zu wem dann? Er stand ein paar Minuten in einem Korridor und überlegte. Und dann hatte er es. Er konnte etwas tun, etwas, das er ohnehin getan hätte, wenn nicht alles so plötzlich auf ihn eingestürmt wäre. In der Bibliothek des Hospitals gab es einige Werke über die prähistorischen Epochen der Erde — sowohl in Form von Bändern als auch in der altmodischen, schwer zu handhabenden Buchform. Conway häufte die Bücher auf einen Lesetisch und schickte sich an, seine professionelle Neugierde in bezug auf den Patienten auf diese etwas umständliche Art zu befriedigen. Die Zeit verging sehr schnell. Dinosaurier, das stellte Conway sofort fest, war nur ein allgemeiner Ausdruck, den man für die riesigen Reptilien verwendete. Der Patient war, mit Ausnahme seiner größeren Gestalt und der knochigen Verdickung seines Schwanzes, äußerlich dem Brontosaurus ähnlich, der in den Sümpfen der Jurazeit gelebt hatte. Er war ein Pflanzenfresser, besaß aber im Gegensatz zu seinem Patienten keine Waffen, um sich damit gegen die fleischfressenden Reptilien seiner Zeit zu verteidigen. Der Bericht enthielt auch eine überraschende Zahl physiologischer Einzelheiten, die Conway gierig in sich aufnahm. Die Wirbelsäule bestand aus großen Wirbeln, die, mit Ausnahme der Caudalwirbel, alle hohl waren. Das Tier pflanzte sich durch Eierlegen fort. Der Kopf war klein, das Gehirn eines der kleinsten aller Wirbeltiere. Neben diesem Gehirn gab es noch ein gut entwickeltes Nervenzentrum in der Gegend der sakralen Wirbel, das die mehrfache Größe des eigentlichen Gehirns einnahm. Man nahm an, daß Brontosaurier langsam wuchsen und führte ihre großen Körpermaße darauf zurück, daß sie zweihundert und mehr Jahre leben konnten. Ihre einzige Verteidigung gegen Raubtiere ihrer Zeit war, sich ins Wasser zu begeben und dort zu bleiben. Die Brontosaurier starben aus, als, bedingt durch geologische Veränderungen, ihre Sumpfwohnungen austrockneten, wodurch die Tiere ihren natürlichen Feinden auf Gnade und Ungnade ausgeliefert wurden. Ein Experte erklärte, Dinosaurier seien die größte Fehlkalkulation der Natur gewesen. Und doch, so sagte ein anderer, hatten sie drei geologische Perioden durchlebt — das Tertiär, die Jurazeit und die Kreidezeit — insgesamt also einhundertvierzig Millionen Jahre, eine lange Zeit für eine „Fehlkalkulation“, insbesondere, wenn man bedachte, daß der Mensch bis zur Stunde erst eine halbe Million Jahre hinter sich gebracht hatte! Conway verließ die Bibliothek in der Überzeugung, etwas Wichtiges entdeckt zu haben, wenn er auch noch nicht sagen konnte, worin dieses Wichtige bestand. Er nahm hastig eine Mahlzeit zu sich und beschloß dabei, daß er noch wesentlich umfangreichere Informationen brauchte — und es gab nur einen Menschen, der imstande war, sie ihm zu verschaffen. „Wo ist unser kleiner Freund?“ fragte der Psychologe scharf, als Conway ein paar Minuten darauf sein Büro betrat. „Haben Sie sich gestritten?“ Conway schluckte und war bemüht, seiner Stimme nichts anmerken zu lassen. „Dr. Arretapec wollte eine Zeit allein mit dem Patienten arbeiten, und ich habe mich inzwischen in der Bibliothek über Dinosaurier informiert. Ich wollte mich erkundigen, ob Sie weitere Informationen für mich haben.“ „Ein wenig“, sagte O’Mara. Er musterte Conway und knurrte dann: „Da…“ Das Forschungsschiff des Monitor-Korps, das Arretapecs Heimatplaneten entdeckt hatte, hatte das hohe Stadium der Zivilisation erkannt, das seine Bewohner erreicht hatten, und ihnen den Hyperantrieb anvertraut. Einer der ersten Planeten, die Arretapecs Artgenossen besucht hatten, war eine junge Welt ohne jegliches intelligente Leben gewesen, aber eines seiner Lebewesen hatte sie interessiert — der riesige Saurier. Und so hatten sie den herrschenden Mächten der Galaxis erklärt, daß sie mit ausreichender Unterstützung vielleicht imstande sein könnten, etwas zu tun, was der ganzen Zivilisation nützen konnte. Da telepathische Rassen nicht lügen konnten, ja nicht einmal verstanden, was eine Lüge war, gab man ihnen die verlangte Hilfe, und Arretapec und sein Patient waren nach Sektor 12 gekommen. O’Mara wies Conway auf eine weitere Kleinigkeit hin. Offenbar gehörte zu den Psifähigkeiten der VUXGs auch eine Art hellseherische Fähigkeit. Letztere schien nicht viel Nutzen zu bringen, da sie, auf Individuen bezogen, nicht funktionierte. Als Conway O’Mara verließ, war er noch verwirrter denn je zuvor. Er versuchte immer noch, aus den einzelnen Stückchen von Informationen, die er besaß, ein großes Ganzes zu bilden, das einen Sinn ergab, aber entweder war er zu müde oder zu dumm. Es mußte irgendeine Verbindung zwischen diesen beiden Faktoren bestehen — zwischen Arretapecs Kommen und seiner, Conways, unerklärlichen Müdigkeit, dachte er. Er befand sich in ausgezeichneter körperlicher Verfassung und hatte bisher noch nie solche Müdigkeit empfunden, ganz gleich, wie sehr er sich angestrengt hatte. Und hatte Arretapec nicht gesagt, daß sein Juckreiz auf irgendeine Störung hindeute? Plötzlich empfand er seine Arbeit mit dem VUXG-Doktor nicht nur als lästig, sondern geradezu gefährlich für seine eigene Sicherheit. Wie, wenn dieses Jucken auf eine neue Art von Bakterien zurückzuführen war, auf die seine Skala am Unterarm nicht ansprach? Er würde einen der Ärzte aufsuchen. Am besten tat er das sofort. Aber Conway war sehr müde. Er gab sich selbst das Versprechen, am nächsten Morgen Dr. Mannon, seinen letzten Vorgesetzten, um eine gründliche Untersuchung zu bitten. Und am Morgen würde er auch wieder mit Arretapec ins reine kommen müssen. Er grübelte immer noch über die eigenartige neue Krankheit nach und überlegte, wie er sich am besten bei dem VUXG entschuldigte, als ihn der Schlaf übermannte. 21 Am nächsten Morgen wies seine Schreibtischplatte wieder ein zwei Zoll tiefes Loch auf, in dem Arretapec es sich bequem gemacht hatte. Conway hatte kaum zu verstehen gegeben, daß er wach sei, als das Wesen schon sprach: „Ich habe mir seit gestern überlegt“, sagte der VUXG, „daß ich vielleicht von Ihnen als dem Angehörigen einer Spezies, die — relativ gesehen natürlich — nur von geringer geistiger Kapazität ist, zuviel an Selbstkontrolle, emotionellem Gleichgewicht und der Fähigkeit, gewisse physische Reize zu ertragen, erwarte. Ich werde mich bemühen, im Laufe unserer Zusammenarbeit dies gebührend zu berücksichtigen.“ Conway brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß Arretapec sich bei ihm entschuldigt hatte. Als er es aber begriffen hatte, überlegte er, daß das die beleidigendste Entschuldigung war, die man ihm gegenüber vorgebracht hatte und daß es in der Tat ein Tribut an seine Selbstbeherrschung war, daß er das dem anderen nicht sagte. Statt dessen lächelte er nur und bestand darauf, daß alles seine Schuld sei. Dann begaben sie sich wieder zu ihrem Patienten. Das Innere des großen Transporters hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Anstelle einer Hohlkugel, die mit einem schlammigen Brei aus Erde, Wasser und Pflanzen bedeckt war, boten jetzt drei Viertel der verfügbaren Oberfläche das perfekte Abbild einer Landschaft des Mesozoikums. Und doch war es anders als die Bilder, die Conway gestern studiert hatte, denn diese Bilder bezogen sich auf ein fernes Zeitalter der Erde, während diese Flora von der Heimatwelt des Patienten herbeigeschafft worden war. Aber die Unterschiede waren verblüffend gering. Die größte Veränderung aber war mit dem Himmel vor sich gegangen. Wo man vorher bis zur gegenüberliegenden Seite der Hohlkugel hatte sehen können, blickte man jetzt zu einem blauweißen Nebel auf, in dem eine äußerst natürlich wirkende Sonne brannte. Die hohle Mitte des Schiffes war mit diesem halb undurchsichtigen Gas beinahe angefüllt worden, so daß es jetzt wirklich scharfer Augen und bewußten Nachdenkens bedurfte, um zu erkennen, daß man nicht auf einem echten Planeten mit einer echten Sonne am nebligen Himmel stand. Die Ingenieure hatten wirklich großartige Arbeit geleistet. „Ich hätte nicht gedacht, daß eine so lebensnahe und exakte Rekonstruktion möglich wäre“, sagte Arretapec plötzlich. „Das dürfte auf den Patienten eine positive Wirkung haben.“ Das Lebewesen, von dem die Rede war — aus irgendeinem wohl nur ihnen bekannten Grund bestanden die Ingenieure darauf, es Emily zu nennen — knabberte gerade zufrieden an den Blättern eines zehn Meter hohen Palmengewächses. „Es ist im Prinzip dasselbe, als wenn man für einen beliebigen extraterrestrischen Patienten eine neue Station einrichtet“, sagte Conway bescheiden. „Der Hauptunterschied liegt nur im Umfang der Arbeiten.“ „Trotzdem bin ich beeindruckt.“ Zuerst Entschuldigungen und jetzt Komplimente, dachte Conway. Als sie dem Patienten näherkamen, schärfte Arretapec seinem Assistenten erneut ein, sich völlig ruhig zu verhalten und sich nicht zu bewegen. Plötzlich verspürte Conway wieder einen Juckreiz. Er begann an der üblichen Stelle in seinem rechten Ohr, aber diesmal breitete er sich schnell aus und nahm an Intensität zu, bis Conway meinte, ihm liefen tausend bissige Insekten über sein Gehirn. Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Seine Hand fuhr in einer panikartigen Bewegung an seinen Kopf, wodurch der Behälter, in dem Arretapec sich befand, zu Boden gestoßen wurde. „Jetzt zappeln Sie schon wieder herum…“ begann der VUXG. „Tut… tut mir leid“, stammelte Conway. Er murmelte etwas Unzusammenhängendes, aus dem man entnehmen konnte, daß er weggehen müsse, daß es sehr dringend sei und keinen Aufschub dulde, und dann floh er im Zustand höchster Erregung. Drei Stunden später saß er in Dr. Mannons DBGD-Untersuchungssaal, während Mannons Hund ihn abwechselnd bösartig anknurrte oder sich vor ihm auf dem Boden wälzen und ihn flehentlich darum zu bitten schien, doch mit ihm zu spielen. Aber Conway verspürte im Augenblick nicht die geringste Lust oder Neigung dazu, einen Ringkampf mit dem Hund aufzuführen, wie er es sonst manchmal tat. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf den Kopf seines ehemaligen Vorgesetzten gerichtet und die Karten, die Mannon vor sich liegen hatte. Plötzlich blickte der Arzt auf. „Ihnen fehlt gar nichts“, sagte er in dem Tonfall, den er gewöhnlich bei Studenten und Patienten anwandte, von denen er annahm, daß sie simulierten. Ein paar Augenblicke später fügte er hinzu: „Oh, ich zweifle nicht im geringsten daran, daß Sie diese Empfindungen verspüren — Müdigkeit, Juckreiz und so fort — aber alle Zeichen deuten darauf hin, daß es sich um ein psychosomatisches Gebrechen handelt. An was für einem Fall arbeiten Sie denn im Augenblick?“ Conway sagte es ihm. Ein paarmal während des Berichts grinste Mannon. „Ich nehme an, das ist das erstemal, daß Sie einem telepathischen Lebewesen — äh — ausgesetzt sind und daß Sie vor mir noch mit niemandem darüber gesprochen haben?“ Das war eine Feststellung, keine Frage. „Und dieser Juckreiz hält, wenn auch natürlich mit geringerer Intensität, auch dann an, wenn Sie sich nicht in der Nähe des VUXG und des Patienten befinden.“ Conway nickte. „Ich habe ihn erst vor fünf Minuten wieder empfunden.“ „Natürlich, er nimmt mit der Entfernung ab“, sagte Mannon. „Aber was Sie selbst betrifft — Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Arretapec versucht einfach — natürlich ohne es zu wissen, verstehen Sie mich richtig — einen Telepathen aus Ihnen zu machen. Ich erkläre es Ihnen…“ Offenbar stimulierte längerer Kontakt mit irgendwelchen telepathischen Lebewesen einen gewissen Bereich im menschlichen Gehirn. Das war entweder der Anfang einer telepathischen Funktion, die sich in der Zukunft entwickeln würde, oder ein verkümmertes Überbleibsel einer Fähigkeit, die der Mensch in seiner primitiven Vergangenheit einmal besessen hatte. Das Ergebnis war eine lästige, aber völlig harmlose Reizung. Zu sehr seltenen Gelegenheiten jedoch, fügte Mannon hinzu, bewirkte diese Nähe im Menschen eine Art künstlicher telepathischer Fähigkeit — das hieß, er konnte manchmal Gedanken von dem Telepathen empfangen, dem er ausgesetzt war, aber von keinem anderen Wesen. Es handelte sich in allen Fällen um eine zeitlich strikt begrenzte Fähigkeit, die sofort verschwand, wenn das Wesen, das sie ausgelöst hatte, den Menschen verließ. Während Dr. Mannon gesprochen und ihn von der Sorge befreit hatte, daß er sich irgendeine fremdartige Krankheit zugezogen hatte, hatte Conway fieberhaft nachgedacht. Einzelne Episoden, die mit Arretapec und dem Brontosaurier zu tun hatten, kamen ihm in Erinnerung und vermischten sich mit Bruchstücken aus den Gesprächen mit dem VUXG und seinen eigenen Studien des Lebens. Ein Bild begann in seinem Geist Gestalt anzunehmen. Es war ein verrücktes oder ein zumindest äußerst eigenartiges Bild, und es hatte noch viele Lücken, aber was konnte ein Wesen wie Arretapec mit einem Patienten wie dem Brontosaurier tun, einem Patienten, dem überhaupt nichts fehlte? „Wie bitte?“ sagte Conway. Er hatte bemerkt, daß Mannon etwas gesagt hatte, was er nicht genau verstanden hatte. „Ich sagte, wenn Sie herausfinden, was Arretapec tut, sagen Sie es mir bitte“, wiederholte Mannon. „Oh, ich weiß, was er tut“, sagte Conway. „Wenigstens glaube ich das — und ich verstehe, warum Arretapec nicht darüber sprechen möchte. Er würde sich ja unsterblich blamieren, wenn er es versuchte und keinen Erfolg hätte. Nein, allein der Gedanke des Versuches ist schon lächerlich. Was ich nicht weiß, ist, warum er es tut…“ „Dr. Conway“, sagte Mannon mit verdächtig sanfter Stimme, „wenn Sie mir nicht sagen, wovon Sie reden, sorge ich dafür, daß Sie die nächsten vier Wochen Latrinendienst bekommen…“ Er lächelte freundlich. Conway sprang auf. Er mußte sofort zu Arretapec zurück. Jetzt, wo er eine grobe Vorstellung hatte, was dort draußen in dem Transporter vor sich ging, gab es für ihn Wichtiges zu tun — dringende Sicherheitsvorkehrungen waren zu treffen, an die ein Wesen wie der VUXG vielleicht überhaupt nicht dachte. „Tut mir leid, Sir“, sagte er abwesend, „ich kann es Ihnen nicht sagen. Wissen Sie, nach allem, was Sie mir jetzt erklärt haben, besteht durchaus die Möglichkeit, daß ich mein Wissen auf telepathischem Wege direkt von Arretapec bezogen habe, und in diesem Fall hindert mich mein Berufsgeheimnis, etwas davon zu sagen. Ich muß mich jetzt beeilen. Aber jedenfalls vielen Dank.“ Er hatte Mannons Büro kaum verlassen, als er schon auf den nächsten Interkomsprecher zurannte und die Pionierabteilung rief. Die Stimme, die sich meldete, erkannte er als die des Ingenieurobersten, mit dem er schon einmal zu tun gehabt hatte. Er fragte schnell: „Ist die Hülle dieses umgebauten Transporters stark genug, um den Aufprall eines Körpers von etwa achtzigtausend Pfund auszuhalten, wenn dieser Körper sich mit einer Geschwindigkeit zwischen zwanzig und hundert Meilen in der Stunde bewegt? Welche Sicherheitsvorkehrungen kann man dagegen treffen?“ Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann: „Machen Sie Witze mit mir? Der würde durchbrechen. Aber das Luftvolumen im Schiff ist so groß, daß meine Leute genügend Zeit hätten, die Anzüge anzulegen. Warum fragen Sie?“ Conway dachte fieberhaft nach. Er hatte bestimmte Vorstellungen, wollte aber den anderen nicht einweihen. So sagte er dem Oberst, daß er sich wegen der Schwerkraftgitter Sorge mache, die die künstliche Schwerkraft im Schiff erzeugten. Es gab davon so viele, daß schon eine versehentliche Umpolung eines Abschnitts ausreichen würde, um den Brontosaurier abzustoßen, anstatt ihn anzuziehen… Der Oberst unterbrach ihn und räumte ein, daß man Schwerkraftgitter zwar ebenso auf Abstoßung wie Anziehung schalten könne, aber daß eine solche Umpolung ja nicht gerade dann erfolge, wenn jemand die Gitter schief ansähe. Schließlich gäbe es doch Sicherheitsvorkehrungen… „Trotzdem“, unterbrach ihn Conway wieder. „Ich würde mich viel wohler fühlen, wenn Sie sämtliche Schwerkraftgitter so schalten könnten, daß diese automatisch auf Abstoßung umpolen, wenn sich ihnen ein schwerer fallender Körper nähert. Ist das möglich?“ „Ist das ein Auftrag?“ fragte der Oberst, „oder wollen Sie uns bloß Kopfschmerzen machen?“ „Es ist ein Auftrag“, erklärte Conway. „Dann läßt es sich machen.“ Ein scharfes Klicken beendete die Unterhaltung. Conway begab sich wieder zu Arretapec, um zum idealen Assistenten zu werden — ideal in der Weise, daß er immer die Antwort fertig haben würde, wenn der andere die Frage stellte. Er würde nur dafür sorgen müssen, daß der VUXG die richtigen Fragen stellte, dachte er. 22 Am fünften Tag ihrer Zusammenarbeit sagte Conway zu Arretapec: „Man hat mir versichert, daß Ihr Patient weder ein physisches Leiden hat noch von einem Psychiater behandelt werden muß. Das führt mich zu dem Schluß, daß Sie auf telepathischem oder ähnlichem Wege versuchen, irgendeinen Wechsel in der Gehirnstruktur herbeizuführen. Wenn mein Schluß zutrifft, so weiß ich etwas, was Sie interessieren oder Ihnen vielleicht sogar helfen könnte: In primitiven Zeiten hat es auf meinem eigenen Planeten ein Riesenreptil ähnlich Ihrem Patienten gegeben. Von Überresten, die Archäologen ausgegraben haben, wissen wir, daß dieses Reptil ein zweites Nervenzentrum besaß oder benötigte, das um ein Mehrfaches größer als das eigentliche Gehirn war und das sich in der Gegend der Wirbelsäule befand. Es diente vermutlich dazu, die Bewegung der Hinterbeine, des Schwanzes und so weiter zu bewirken. Wenn das hier der Fall sein sollte, haben Sie vielleicht mit zwei Gehirnen anstatt mit einem zu tun.“ Während er auf Arretapecs Antwort wartete, dankte Conway seinem Schicksal, daß der VUXG einer äußerst ethischen Spezies angehörte, die es prinzipiell ablehnte, ihre Telepathie gegenüber Nichttelepathen einzusetzen, sonst hätte Arretapec gewußt, daß Conway wußte, daß der Patient zwei Nervenzentren besaß — daß er das wußte, weil ein Kollege Conways heimlich den nichtsahnenden Dinosaurier mit einer Röntgenkamera untersucht hatte, während Arretapec wieder einmal ein Loch in seinen Schreibtisch gefressen hatte. „Ihre Schlüsse sind richtig“, meinte Arretapec endlich, „und was Sie hier sagen, ist interessant. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, daß ein Wesen zwei Gehirne besitzt. Aber das würde die ungewöhnliche Schwierigkeit erklären, mit diesem Wesen in Verbindung zu treten. Ich werde das untersuchen.“ Conway spürte, wie sein Ohr wieder zu jucken begann, aber seit er wußte, worum es sich handelte, konnte er das ohne zu „zappeln“ hinnehmen. Der Juckreiz ließ nach, und Arretapec sagte: „Ich bekomme eine Reaktion. Zum erstenmal bekomme ich eine Reaktion.“ Wieder begann der Juckreiz und nahm zu und nahm zu… Das fühlte sich nicht nur an wie Ameisen mit rotglühenden Kneifzangen, dachte Conway, während er verzweifelt darum kämpfte, sich nicht zu rühren, um Arretapec nicht abzulenken; es fühlte sich vielmehr an, als bohrte jemand mit einem rostigen Nagel Löcher in sein armes Gehirn. So war es noch nie gewesen. Es war die reinste Tortur. Und dann änderte sich die Empfindung plötzlich. Nicht, daß sie nachließ, im Gegenteil. Es kam noch etwas hinzu. Ein grelles Licht flammte vor Conways Augen auf und war dann gleich wieder verschwunden. Es war gerade, als hätte sich einen Augenblick eine Tür vor ihm geöffnet. Conway hatte nicht den leisesten Zweifel daran, daß er während dieses Bruchteils einer Sekunde in Arretapecs Gesicht geblickt hatte. Jetzt wußte er alles! Der VUXG bekam noch den ganzen Tag Reaktionen, aber sie waren abweichend und unkontrollierbar. Eine besonders dramatische Reaktion hatte den Dinosaurier in seiner Panik dazu veranlaßt, ein paar Morgen Baumbestand einzuebnen, und dann war er verstört in den See gerannt. Arretapec gab es auf. „Es hat keinen Sinn“, sagte der Arzt. „Das Wesen läßt sich einfach von mir nichts beibringen, und wenn ich es zwinge, bekommt es Angst.“ Seine gleichmäßige übersetzte Stimme war völlig ausdruckslos, aber Conway, der Arretapecs Gedanken gelesen hatte, wußte, wie bitter enttäuscht der andere war. Er wünschte verzweifelt, helfen zu können, wußte aber zugleich, daß er nichts tun konnte — Arretapec war der einzige, der in diesem Fall etwas erreichen konnte. Er, Conway, konnte nur Hilfestellung leisten. Er zerbrach sich immer noch den Kopf nach einer Lösung, als er sich am Abend schlafen legte, und kurz bevor er einschlief, glaubte er, sie gefunden zu haben. Am nächsten Morgen warteten sie auf Dr. Mannon, als der gerade in den DBLF-Operationssaal gehen wollte. Conway fragte: „Sir, leihen Sie uns Ihren Hund?“ „Privat oder dienstlich?“ fragte Mannon argwöhnisch. Er hing sehr an seinem Hund. „Es passiert ihm gar nichts“, versicherte Conway treuherzig. „Vielen Dank.“ Er nahm dem tralthanischen Internisten die Leine weg und sagte zu Arretapec: „Und jetzt in mein Zimmer…“ Zehn Minuten darauf raste der Hund bellend in Conways Zimmer herum, während Conway selbst mit Kissen nach ihm warf. Plötzlich erzielte er einen Volltreffer, so daß der Hund sich überschlug. Er fing jämmerlich zu winseln an und kratzte mit den Pfoten auf dem Fußboden. Conway wurde plötzlich in die Höhe gerissen und schwebte anderthalb Meter hoch in der Luft. „Ich hatte nicht gewußt“, dröhnte die Stimme Arretapecs vom Tisch, „daß das eine Demonstration von menschlichem Sadismus sein soll. Ich bin schockiert. Sie werden dieses arme Tier sofort freilassen.“ „Lassen Sie mich herunter, dann erkläre ich alles…“ bat Conway. Am achten Tag gaben sie den Hund Dr. Mannon zurück und nahmen die Arbeit an dem Dinosaurier wieder auf. Am Ende der zweiten Woche arbeiteten sie immer noch, und sämtliches Personal des Hospitals redete, pfiff, zirpte und grunzte in jeder nur erdenklichen Sprache über Arretapec, Conway und ihren Patienten. Eines Tages befanden sie sich im Speisesaal, als Conway bemerkte, daß der Interkom, der schon alle möglichen Durchsagen gebracht hatte, seinen Namen rief: „… O’Mara anrufen“, hieß es monoton. „Dr. Conway bitte. Würden Sie bitte so schnell wie möglich Major O’Mara anrufen…“ „Entschuldigen Sie“, sagte Conway zu Arretapec, der auf dem Plastikbock saß, den der Kantinenleiter mit einem vielsagenden Lächeln an Conways Tisch gestellt hatte, und eilte zum nächsten Interkom. „Es ist nicht ungeheuer wichtig“, sagte O’Mara, als er anrief und fragte, was passiert sei. „Ich möchte nur ein paar Erklärungen haben. Zum Beispiel: Dr. Hardin schäumte praktisch vor Wut, weil das Gemüse, das er pflanzt, jetzt mit irgendeiner Chemikalie besprüht werden muß, die den Geschmack beeinträchtigt. Und warum muß ein Großteil von dem Grünzeug in der Höchstblüte gelagert werden? Was fangen Sie mit einem 3-D-Projektor an? Und was hat Mannons Hund mit der ganzen Geschichte zu tun?“ O’Mara machte eine Zwangspause, um Luft zu holen und fuhr dann fort: „Und Oberst Skempton sagt, seine Ingenieure hätten es langsam satt, dauernd für Sie Zug- und Druckstrahlenfassungen zu bauen — nicht, daß es ihm etwas ausmacht. Er sagt nur, wenn diese ganze Apparatur auf diesem alten Kahn da nach außen statt nach innen gerichtet wäre, könnten Sie es leicht mit einem Schlachtkreuzer der Föderation aufnehmen. Und seine Leute… nun, eine ganze Menge von ihnen ist bei mir in Behandlung. Einige von ihnen, die Glücklicheren möchte ich sagen, glauben einfach ihren Augen nicht. Die anderen würden wirklich rosa Elefanten vorziehen.“ Eine kurze Pause, und dann sagte O’Mara: „Mannon sagt mir, Sie säßen jetzt auf dem hohen Roß der Ethik und redeten überhaupt nichts. Ich habe mir nur gedacht…“ „Tut mir leid, Sir“, sagte Conway. „Aber was zum Teufel tun Sie denn?“ explodierte O’Mara. Und dann: „Nun, viel Glück jedenfalls. Ende.“ Conway eilte zu Arretapec zurück, um die Unterhaltung wieder aufzunehmen. Als sie eine Weile später gingen, meinte Conway: „Es war dumm von mir, den Größenfaktor nicht zu berücksichtigen. Aber jetzt, wo wir…“ „Dumm von uns, Freund Conway“, korrigierte ihn Arretapec mit ausdrucksloser Stimme. „Der Großteil Ihrer Ideen hat ja funktioniert. Sie haben mir unschätzbare Dienste geleistet, und ich überlege mir wirklich manchmal, ob Sie nicht ahnen, was ich vorhabe. Ich hoffe, daß auch diese Idee funktioniert.“ „Nun, drücken wir eben die Daumen.“ Bei dieser Gelegenheit stellte Arretapec nicht, wie er das gewöhnlich tat, fest, daß er erstens nicht an Glück glaubte und zweitens keine Daumen besaß. Arretapecs Verständnis für Menschen nahm zweifellos zu. Und im Augenblick wünschte Conway, daß der VUXG jetzt seine Gedanken las, um zu wissen, wie sehr er auf seiner Seite stand und wie sehr er Arretapecs Experiment Erfolg wünschte. Conway spürte auf dem ganzen Weg zum Schiff, wie die Spannung in ihm stieg. Als er den Ingenieuren und Mechanikern ihre letzten Anweisungen gab und sich vergewisserte, daß ein jeder wußte, was in einem Notfall zu tun sei, merkte er, daß alle Spuren von Überanstrengung zeigten. Aber als er dann weniger als fünfzig Meter von dem Patienten entfernt stand — einen Antischwerkraftgürtel um die Hüfte, einen 3-D-Projektor um die Brust und eine schwere Radioanlage auf den Schultern — war seine Erregung auf dem Höhepunkt angelangt. „Projektorgruppe fertig“, sagte eine Stimme. „Das Futter ist auch bereit“, eine andere. „Alle Zug- und Druckstrahlmannschaften fertig“, meldete eine dritte. „Okay, Doktor“, sagte Conway zu Arretapec, der über ihm schwebte, und fuhr sich mit der plötzlich trocken gewordenen Zunge über die Lippen. „Machen Sie Ihre Sache gut.“ Er drückte einen Knopf an dem Mechanismus auf seiner Brust, und im nächsten Augenblick baute sich rings um ihn ein körperloses Bild eines fast zwanzig Meter großen Conway auf. Er sah, wie der Patient den Kopf hob und hörte das tiefe, brummende Geräusch, das er immer von sich gab, wenn er erregt war oder Angst hatte und sah, wie er langsam und bedächtig rückwärts zum See zurückwich. Aber Arretapec strahlte mit voller Kraft auf die beiden kleinen, beinahe rudimentären Gehirne des Riesen aus, sandte Wellen der Beruhigung — und das große Reptil beruhigte sich. Ganz langsam, um es nicht zu erschrecken, griff Conway hinter sich, hob etwas auf und legte es dann vor sich hin. Rings um ihn tat sein großes Bild das gleiche. Aber wo die große Hand des Bildes sich auf den Boden senkte, lag jetzt ein Bündel grüner Blätter, und als die so massiv scheinende und doch körperlose Hand sich hob, folgte ihr das Bündel, von drei präzis eingestellten Zug- und Druckstrahlern festgehalten. Das frische, feuchte Bündel aus Pflanzen und Palmblättern wurde dicht vor dem immer noch unruhigen Dinosaurier abgelegt, allem Anschein nach von der Hand, die sich jetzt schnell zurückzog. Nach einer Zeit, die Conway wie eine Ewigkeit vorkam, senkte sich der schlangenartige Hals. Der Dinosaurier knabberte an den Blättern. Conway wiederholte die gleiche Bewegung. Und immer wieder tat er es. Und die ganze Zeit schob sich sein großes Bild immer näher heran. Der Brontosaurier konnte natürlich im Notfall auch die Vegetation essen, die um ihn herum wuchs, aber seit Dr. Hardins Sprühgerät in Aktion getreten war, schmeckte die Nahrung nicht besonders gut. Aber diese Leckerbissen waren echt; das frische, saftige Fressen, das er früher gehabt hatte. Wo er zuerst geknabbert hatte, schlang er jetzt gierig. „Okay“, sagte Conway. „Stufe zwei…“ 23 Mit Hilfe des Fernsehgerätes, das sein Bild in bezug auf den Dinosaurier zeigte, schob Conways Hand sich erneut vor. Hoch über ihnen, und da auf der anderen Seite der Hülle befindlich, unsichtbar, trat ein anderer Druckstrahler in Aktion und synchronisierte seine Bewegung mit der Hand, die jetzt allem äußeren Anschein nach den mächtigen Hals des Patienten streichelte und dabei festen, wenn auch sanften Druck ausübte. Nach einem ersten Zusammenzucken der Panik fraß der Patient weiter. Arretapec berichtete, daß dem Patienten die Berührung gefiel. „So“, sagte Conway, „und jetzt packen wir fester zu.“ Zwei große Hände drückten gegen „Emilys“ Leib, und die massierte Gewalt der Druckstrahlen warf den Patienten krachend zu Boden. Jetzt schlug er in wirklicher Angst um sich und versuchte verzweifelt, wieder auf die Beine zu kommen. Aber anstatt irgendwelchen Schaden anzurichten, fuhren die beiden großen Hände fort, ihn zu streicheln und zu tätscheln. Der Brontosaurier hatte sich beruhigt und zeigte erneut Anzeichen des Wohlbehagens, als die Hände eine neue Stellung einnahmen. Zug- und Druckstrahl packten den liegenden Körper, rissen ihn in die Höhe und warfen ihn auf die andere Seite. Conway bediente sich seines Schwerkraftgürtels, um beweglicher zu sein und hüpfte nun rings um den Brontosaurier herum, während Arretapec, der mit dem Patienten in Rapport war, dauernd über die Auswirkungen der verschiedenen Reize berichtete. Er streichelte, tätschelte und schlug das riesige Reptil, zog an seinem Schwanz, klopfte ihm auf den Hals — und die ganze Zeit taten die Druckstrahlen das, was seine Hände zu tun schienen. Das war nicht das erstemal, daß das geschah, und es waren auch noch ganz andere Dinge passiert. Einer der Ingenieure war seitdem zum Trinker geworden, und vier weitere weigerten sich, in dem Transporter zu arbeiten. Aber erst, seit der Größenfaktor mit in die Überlegungen einbezogen war, wie heute mit dieser riesenhaften 3-D-Projektion, zeigten sich so vielversprechende Resultate. In der letzten Woche hatte es ausgesehen, als balgte sich eine Maus mit einem Bernhardiner herum — kein Wunder, daß der Brontosaurier höchste Panik empfunden hatte, als alle möglichen unerklärlichen Dinge passiert waren und er keinen greifbaren Widersacher gesehen hatte — abgesehen von diesen beiden winzigen Kreaturen dort unten! Aber die Spezies des Patienten streifte schon seit hundert Millionen Jahren über ihren Heimatplaneten, und der Patient selbst war ungeheuer langlebig. Obwohl seine beiden Gehirne winzig waren, war er in Wirklichkeit viel klüger als ein Hund, so daß Conway ihn bald soweit hatte, daß er Männchen machte und bettelte. Und zwei Stunden darauf schwebte der Brontosaurier. Er hob sich schnell vom Boden, ein monströser, unbeschreiblicher Körper mit massiven Beinen, die sich unwillkürlich wie beim Gehen bewegten. Der lange Hals ebenso wie der lange Schwanz hingen herunter. Offenbar hatte im Augenblick das „zweite“ Gehirn in der Wirbelsäule die Kontrolle übernommen und bewirkte diese Levitation, dachte Conway. Aber das war unbedeutend. Die Hauptsache war, daß diese Levitation überhaupt stattfand. Es sei denn – „Helfen Sie?“ fragte Conway scharf. „Nein.“ Die Antwort war kurz und ausdruckslos, aber wenn der VUXG jetzt ein Erdmensch gewesen wäre, hätte er einen Jubelschrei ausgestoßen. „Gute, alte Emily!“ schrie jemand in Conways Kopfhörern, wahrscheinlich jemand von der Druckstrahlmannschaft, und dann: „Schaut nur, jetzt fliegt sie dran vorbei!“ Der Brontosaurier hatte das schwebende Gemüsebündel verfehlt und stieg immer noch weiter. Er versuchte tolpatschig, es im Vorbeifliegen zu erreichen, und diese Bewegung versetzte ihn in Drehung. Jetzt bewegten sich Hals und Schwanz, und die Bewegung wurde noch komplizierter. „Holt sie nur wieder herunter“, sagte eine zweite Stimme drängend. „Diese künstliche Sonne könnte ihr den Schwanz verbrennen.“ „… und die Drehung versetzt sie in Panik“, pflichtete Conway dem Mann bei. „Traktorstrahl…!“ Aber zu spät. Sonne, Erde und Himmel kreisten wie wild um ein Wesen, das bisher an festen Boden unter den Füßen gewöhnt war. Es wollte hinauf oder hinunter oder irgendwohin. Trotz Arretapecs verzweifelter Bemühungen, den Brontosaurier zu beruhigen, teleportierte er erneut. Conway sah den großen Berg aus Fleisch und Knochen mit mindestens dem Vierfachen der vorherigen Geschwindigkeit davonschießen. Er schrie: „Sektor H! Bremst ihn langsam ab, aber vorsichtig!“ Aber die Leute an den Druckstrahlern hatten weder Zeit noch Raum, ihn vorsichtig abzubremsen. Um zu verhindern, daß er gegen die Wand prallte — und durch die Stahlplatten darunter hindurch und hinaus ins All — mußten sie ihn abbremsen, und dieses Abbremsen mußte der Brontosaurier wie einen kräftigen Schlag empfinden. Er teleportierte erneut. „Sektor C! Jetzt kommt er zu euch!“ Aber bei C wiederholte sich, was schon bei H geschehen war. Das Tier erschrak und schoß in einer anderen Richtung davon. Und so ging es weiter, und das riesige Reptil raste wie eine Rakete von einem Punkt im Innern des Schiffes zum anderen, bis… „Hier Skempton“, sagte eine befehlsgewohnte, durchdringende Stimme. „Meine Leute sagen, daß der Unterbau der Druckstrahler nicht für diese Beanspruchung vorgesehen ist. Ungenügende Halterungen. Die Deckplatten sind an acht Stellen gesprungen.“ „Können Sie nicht…“ „Wir dichten die Lecks so schnell wie möglich ab“, unterbrach ihn Skempton und beantwortete damit Conways Frage, ehe er sie überhaupt hatte stellen können. „Aber wenn das so weitergeht, fliegt noch das ganze Schiff auseinander.“ Jetzt schaltete Dr. Arretapec sich ein. „Dr. Conway“, sagte das Wesen, „es ist zwar offenkundig, daß der Patient erstaunliche Fähigkeiten mit seinem neuen Talent gezeigt hat. Ich bin aber überzeugt, daß dieses traumatische Erlebnis irreparablen Schaden an den Denkprozessen des Wesens verursachen wird…“ „Conway, aufpassen!“ Das Reptil war ein paar hundert Meter entfernt beinahe in Bodenhöhe zum Stillstand gekommen und schoß jetzt im rechten Winkel auf Conway zu. Aber es flog im Inneren einer hohlen Kugel auf geradem Kurs, das heißt, die Oberfläche krümmte sich ihm entgegen. Conway sah, wie der Gigant zusammenzuckte, als die Männer von den Strahlerbesatzungen verzweifelt versuchten, ihn abzubremsen. Und dann brach der mächtige Leib plötzlich durch die niederen, dicht beieinanderstehenden Bäume, pflügte eine Furche durch den weichen, schlammigen Boden — und Conway stand genau in seinem Weg. Ehe er den Schalter an seinem Schwerkraftgürtel betätigen konnte, kam ihm der Boden entgegen. Ein paar Minuten war Conway zu benommen, um zu verstehen, weshalb er sich nicht bewegen konnte, und dann sah er, daß er bis zur Hüfte in einer klebrigen Masse aus Schlamm, Erde und Blättern begraben war. Die Erdstöße, die er fühlte, wurden von dem Brontosaurier verursacht, der auf die Beine zu kommen versuchte. Conway blickte auf und sah die große Masse über sich aufragen, sah, wie der Brontosaurier sich unbeholfen umdrehte und hörte die saugenden und knackenden Geräusche, als die massiven, säulenartigen Beine sich beinahe knietief in den Boden bohrten. Emily hatte wieder Kurs auf den See genommen, und zwischen dem See und Emily war Conway! In einem verzweifelten Versuch, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, schrie er und fuchtelte mit den Armen um sich, denn sein Schwerkraftgürtel und das Radio waren beschädigt, und er steckte fest. Der große Reptilberg rollte auf ihn zu. Ein mächtiges Bein schwebte über ihm, bereit, ihn im nächsten Augenblick zu töten und im gleichen Arbeitsgang zu begraben. Und dann wurde Conway plötzlich in die Höhe und zur Seite gerissen, wo ein kleines Etwas, das an eine verrunzelte Pflaume erinnerte, in der Luft schwebte. „In der Aufregung“, sagte Arretapec, „hatte ich vergessen, daß Sie ein mechanisches Gerät benutzen, um zu teleportieren. Ich bitte um Entschuldigung.“ „Sch-sch-schon gut“, stammelte Conway. Er bemühte sich, seine zitternden Hände zur Ruhe zu bringen und sah dann die Leute von der Druckstrahlmannschaft unter sich. Dann rief er: „Schafft mir schleunigst ein Radio und einen Projektor her!“ Zehn Minuten später war er zwar zerschlagen und über und über mit blauen Flecken bedeckt, aber bereit, weiterzumachen. Er stand am Wasserrand, Arretapec saß auf seiner Schulter, und rings um ihn hatte sich erneut das fast zwanzig Meter große Bild aufgebaut. Der VUXG-Arzt, der sich mit dem Brontosaurier unter der Wasserfläche in Rapport befand, berichtete, daß die Chancen jetzt fünfzig zu fünfzig standen. Der Patient hatte ein traumatisches Erlebnis mitgemacht, aber die Tatsache, daß er sich jetzt unter Wasser „in Sicherheit“ befand — wo er früher Zuflucht vor Hunger und vor Angriffen seiner Feinde gesucht hatte — übte, verbunden mit Arretapecs dauerndem geistigen Zuspruch, einen beruhigenden Einfluß aus. Teils hoffend, teils verzweifelnd, wartete Conway. Und dann brach plötzlich der mächtige Kopf durch die Wellen, und der riesige Dinosaurierleib stemmte sich ans Ufer. Langsam knickten die Hinterbeine ein, und dann streckte sich der lange Hals zum Himmel. Der Brontosaurier wollte wieder spielen. Conway spürte einen Klumpen in seiner Kehle. Er sah sich um, wo ein Haufen Grünzeug bereitlag. Ein Bündel davon schwebte bereits auf ihn zu, aber er wehrte mit einer ungeduldigen Handbewegung ab und rief: „Oh, gebt ihm nur alles, er hat es sich verdient…“ „… und als Arretapec dann die Umweltbedingungen auf der Welt des Patienten sah“, sagte Conway etwas steif, „und seine hellseherische Begabung ihm sagte, was aller Wahrscheinlichkeit nach die Zukunft des Brontosauriers sein würde, mußte er versuchen, daran etwas zu ändern.“ Conway befand sich im Büro des Chefpsychologen und gab einen vorläufigen mündlichen Bericht ab. O’Mara, Hardin, Skempton und der Direktor des Hospitals saßen ihm gegenüber. Er räusperte sich und fuhr fort: „Aber Arretapec gehört einer alten, stolzen Rasse an, und der Umstand, daß er Telepath ist, macht ihn noch empfindlicher — Telepathen fühlen wirklich, was andere von ihnen denken. Was Arretapec vorhatte, war so radikal, daß er sich und seine Rasse so lächerlich gemacht hätte, wenn sein Experiment mißlungen wäre, daß er das ganze Projekt einfach geheimhalten mußte. Die Umweltbedingungen auf dem Planeten des Brontosauriers deuteten darauf hin, daß nach dem Aussterben der großen Reptilien dort keine intelligente Lebensform entstehen und daß in geologischer Hinsicht dieses Aussterben bald erfolgen würde. Die Spezies des Patienten existierte schon ziemlich lange, aber es standen klimatische Veränderungen bevor. Die Wesen konnten der Sonne nicht zum Äquator folgen, da die Planetenoberfläche aus einer großen Zahl von Inselkontinenten bestand. Wenn man aber diese riesigen Reptilien dazu bringen konnte, die Psi-Fähigkeit der Teleportation zu entwickeln, würde die Ozeangrenze verschwinden und damit auch die Gefahr, daß die Wesen den Kälte- oder Hungertod sterben. Und das ist Dr. Arretapec gelungen.“ An dieser Stelle mischte O’Mara sich ein. „Wenn Arretapec dem Brontosaurier die Fähigkeit der Teleportation verschafft hat, indem er auf sein Gehirn einwirkte, warum kann man dann nicht für uns das gleiche tun?“ „Wahrscheinlich, weil wir ohne Teleportation auch ganz gut gefahren sind“, antwortete Conway. „Dem Patienten andererseits ist gezeigt und verständlich gemacht worden, daß dieses Talent für sein Überleben wichtig war. Und sobald er das einmal erkannt haben wird, wird diese Fähigkeit auch weitergegeben werden, da sie in praktisch allen Spezies latent vorhanden ist. Jetzt, da Arretapec bewiesen hat, daß der Gedanke sinnvoll ist, wird seine ganze Rasse sich darum kümmern. Und die Intelligenz auf einem sonst toten Planeten zu fördern, ist ein Großprojekt, das diesen großspurigen Burschen so richtig paßt…“ Conway dachte an jenen Sekundenbruchteil, den er in Arretapecs Geist gesehen hatte, an die Zivilisation, die sich auf der Brontosaurierwelt entwickeln würde und an die monströsen und doch eigenartig graziösen Wesen, die in einer fernen, fernen Zukunft dort leben würden. Aber diese Gedanken erwähnte er nicht laut. Er sagte nur: „Arretapec war, wie die meisten Telepathen, gegenüber rein physischen Untersuchungsmethoden äußerst skeptisch. Erst, als ich ihn mit Dr. Mannons Hund bekannt machte und ihm bewies, daß man einem Tier am besten neue Tricks beibringt, indem man mit ihm spielt…“ Oberst Skempton hustete. „Sie brauchen gar nicht so zu tun, als wären Sie selbst nicht an der Geschichte beteiligt. Ihr Gedanke, diesen alten Kahn mit Zug- und Druckstrahlen auszurüsten…“ „Nur eines noch“, warf Conway schnell ein. „Arretapec hat gehört, wie einige der Männer das Wesen Emily nannten. Er möchte gerne wissen, warum.“ „Das kann ich mir auch nicht vorstellen“, sagte O’Mara grinsend. „Aber ich muß sagen, der Name ›Emily Brontosaurus‹ klingt wirklich nett.“ Conway nickte. Wenn er nur schon wüßte, wie er Dr. Arretapec beibringen sollte, was Humor war. Am nächsten Tag reisten Arretapec und der Dinosaurier ab, der Monitor-Offizier, dessen Aufgabe es war, dafür zu sorgen, daß das Hospital mit Lebensmitteln versorgt wurde, atmete auf, und Conway wurde wieder zum Stationsdienst versetzt. Aber diesmal war er etwas mehr als ein medizinischer Mechaniker. Man hatte ihm die Leitung einer Säuglingsstation übertragen, und wenn er auch Krankenpläne, Arzneien und Berichte benutzen mußte, die Thornastor, der leitende Diagnostiker der pathologischen Abteilung stellte, gab es doch niemanden, der ihn unter Druck setzte. Er konnte durch seine Abteilung gehen und sagen, daß das seine Station war. Und O’Mara hatte ihm sogar einen Assistenten versprochen! „Mir war von dem Augenblick an, als Sie hier eintrafen, klar“, hatte der Major zu ihm gesagt, „daß Sie sich besser mit HETs verstehen als mit Angehörigen Ihrer eigenen Spezies. Indem ich Ihnen Dr. Arretapec aufbürdete, unterzog ich Sie einem Test, den Sie mit Ehren bestanden haben, und der Assistent, den Sie in ein paar Tagen bekommen, könnte der nächste Test sein.“ O’Mara hatte ihn gemustert und war dann fortgefahren: „Sie kommen nicht nur ausnehmend gut mit HETs aus, sondern ich habe auch noch nie das leiseste Gerücht gehört, daß Sie hinter den Frauen unserer Spezies her wären…“ „Dafür habe ich keine Zeit“, sagte Conway ernsthaft. O’Mara war nicht weiter auf die Bemerkung eingegangen, und Conway war in Gnaden entlassen. Er war viel zu sehr beschäftigt, um die Gerüchte zu hören, die über den eigenartigen Patienten in Umlauf waren, der in Beobachtungsstation drei eingeliefert worden war. 24 Trotz der ans Wunderbare grenzenden Hilfsmittel der Medizin und Chirurgie — Hilfsmittel, die in der ganzen zivilisierten Galaxis nicht ihresgleichen hatten — mußte es auch Fälle geben, wo Sektor 12 einmal für einen Patienten nichts tun konnte. In diesem Falle handelte es sich um einen Patienten der Klassifikation SRTT, einem physiologischen Typus, wie man ihn im Hospital noch nie gesehen hatte. Der Patient war von amöboider Art, besaß die Fähigkeit, Glieder, Sinnesorgane oder auch eine Schutzhaut „auszuströmen“, je nachdem, was er gerade für seine augenblickliche Umgebung benötigte. Er war so phantastisch anpassungsfähig, daß man sich wirklich nicht vorstellen konnte, wie ein solches Wesen je krank werden konnte. Der verblüffende Aspekt des ganzen Falles war der völlige Mangel an Symptomen. Der Patient schmolz einfach — ganz ruhig, wie ein Stück Eis in einem warmen Raum. Diese Beschreibung traf den Zustand sehr gut, denn sein Körper löste sich tatsächlich in Wasser auf. Und bis jetzt war es noch niemand gelungen, diesen Prozeß aufzuhalten. Langsam begannen die Diagnostiker sich zu der traurigen Feststellung durchzuringen, daß die Reihe medizinischer Wunder, wie sie Sektor 12 bisher mit beinahe monotoner Regelmäßigkeit hervorgebracht hatte, nun abzureißen drohte. Und einzig und allein aus diesem Grund wurde eine der striktesten Regeln des Hospitals zeitweilig aufgehoben. „Ich glaube, am besten fangen wir ganz von vorne an“, sagte Dr. Conway, bemüht, die flimmernden und noch nicht ganz verkümmerten Flügel seines neuen Assistenten nicht anzustarren. „Beim Empfang.“ Conway wartete, ob der andere irgend etwas zu bemerken hatte, und ging dann weiter. Das heißt, er ging nicht neben seinem Begleiter, sondern zwei Meter vor ihm — nicht, um ihn zu beleidigen, sondern aus dem einfachen Grund, weil er Angst hatte, seinem Assistenten Schaden zuzufügen, wenn er näher an ihn herankam. Der neue Assistent war ein GNLO, ein sechsbeiniges, insektenartiges Wesen mit einem Exoskelett und empathischen Fähigkeiten. Er stammte von dem Planeten Cinross. Die Schwerkraft seiner Heimatwelt betrug weniger als ein Zwölftel der Erdnorm, und darin lag auch der Grund, daß seine Insektenspezies so groß und zugleich die dominante Spezies werden konnte. Im Augenblick trug er zwei Antischwerkraftgürtel, um die Anziehungskraft zu neutralisieren, die ihn sonst zu Boden gerissen hätte. Ein Antischwerkraftgürtel hätte für diesen Zweck natürlich ausgereicht, aber Conway konnte es dem Wesen nicht übelnehmen, daß es lieber sichergehen wollte. Es war ein spindeldürres, unglaublich zerbrechlich wirkendes Lebewesen, und sein Name war Dr. Prilicla. „Es ist Ihnen natürlich klar“, sagte Conway, als er den GNLO zum Empfang führte, „daß es schon ein Problem für sich ist, einige unserer Patienten überhaupt hereinzubekommen. Bei den kleineren ist es ja nicht so schlimm, aber Tralthaner oder einen vierzig Fuß langen AUGL von Chalderescol…“ Conway unterbrach sich plötzlich und sagte: „Da sind wir.“ Durch eine große durchsichtige Wand konnte man einen Raum mit drei massiven Kontrollpulten sehen, von denen im Augenblick nur eines besetzt war. Das Wesen davor war ein Nidianer, und man konnte aus einer Gruppe flackernder Kontrollämpchen erkennen, daß es gerade Kontakt mit einem Schiff aufgenommen hatte, das sich dem Hospital näherte. Conway sagte: „Hören Sie zu…“ „Identifizieren Sie sich bitte“, sagte der Teddybär mit seiner abgehackten, bellenden Sprache. „Patient, Besucher oder Pflegepersonal und welche Spezies?“ „Besucher“, kam die Antwort. „Und Mensch.“ Wieder eine Pause und dann: „Bitte Ihre physiologische Klassifikation.“ Der Nidianer blinzelte den beiden Ärzten zu. „Alle intelligenten Rassen bezeichnen ihre eigene Spezies als menschlich und betrachten alle anderen als nichtmenschlich. Es hat also überhaupt keinen Belang, wie sie sich nennen.“ Conway hörte den Rest der Unterhaltung nur noch mit einem Ohr und versuchte sich vorzustellen, wie ein Wesen mit dieser Klassifikation aussehen mußte. Das doppelte T bedeutete, daß sowohl seine Form als auch seine körperlichen Charakteristika variabel waren. R, daß es gegenüber Hitze und Druck, höchst unempfindlich war, und das S in dieser Verbindung…! Wenn er es nicht selbst gehört hätte, hätte Conway nie geglaubt, daß ein solches Wesen überhaupt existieren konnte. Und der Besucher war allem Anschein nach eine wichtige Person, denn der Nidianer war im Augenblick fieberhaft damit beschäftigt, die Nachricht von der Ankunft des Besuchers verschiedenen Wesen im Hospital mitzuteilen — hauptsächlich Diagnostikern. „Falls das keine Störung anderer wichtigerer Pflichten bedeutet“, meldete sich die ausdruckslose Stimme Priliclas, „würde ich diesen Besucher sehr gern sehen.“ Conway hätte das Insekt am liebsten umarmt, denn das deckte sich genau mit seinen Wünschen — nur, daß er sie seinem Assistenten gegenüber nie zugegeben hätte. So ließ er sich nichts anmerken, sondern sagte: „Normalerweise könnte ich das nicht erlauben, aber da die Schleuse, wo der SRTT eintrifft, nicht weit von hier entfernt ist und wir noch etwas Zeit haben, ehe man uns in unseren Stationen erwartet, können wir Ihrer Neugierde nachgehen. Bitte folgen Sie mir, Doktor.“ Conway winkte dem Nidianer am Kontrollpult zu und dachte, wie gut es sei, daß ein Translator keinerlei Gefühlsregungen mit übersetzte. Und dann erstarrte er plötzlich in seiner Bewegung. Prilicla war ja ein Empath. Das Wesen hatte, seit es ihm vorgestellt worden war, noch nicht viel gesagt, aber was es gesagt hatte, hatte immer genau Conways Meinung entsprochen. Sein neuer Assistent war kein Telepath — er konnte nicht Gedanken lesen — aber er war gegenüber Gefühlen und Regungen empfindlich und war sich deshalb zweifellos Conways Neugierde bewußt gewesen. Conway hätte sich am liebsten selbst einen Tritt verpaßt, weil er diese empathische Fähigkeit vergessen hatte. Nur gut, daß Prilicla wenigstens im Umgang angenehm war. 25 Als der Besucher die Vorkammer der Schleuse betrat und die Pforte sich hinter ihm schloß, sah Conway etwas, das einem Krokodil mit Tentakeln ähnelte. Er hatte noch nie so etwas gesehen. Und dann zuckte das Wesen zurück, als es bemerkte, wie es von allen Seiten — und Angehörigen aller Spezies — angestarrt wurde. Und dann schoß es plötzlich auf einen Illensaner in einem durchsichtigen Schutzanzug, in dem Chlornebel wallten, zu. Erst später erinnerte Conway sich daran, daß dieser PVSJ das ihm am nächsten stehende und das kleinste Wesen war. Und dann schien alles gleichzeitig zu schreien, so daß Conways Translator zu vibrieren begann. Der illensanische PVSJ, der sich den Zähnen und scharf bewehrten Tentakeln des Besuchers gegenübersah und zweifellos an die dünne Haut seines Schutzüberzuges dachte, die das für ihn lebenswichtige Chlor barg, floh in die Korridorschleuse, um von dort aus die Sicherheit seiner eigenen Abteilung zu erreichen. Der Besucher, dem plötzlich ein Tralthaner im Wege stand, der ihn zu beruhigen versuchte, machte plötzlich kehrt und strebte auf die gleiche Schleuse zu. Alle Schleusen dieser Art waren für Notfälle mit Rapidschaltern ausgerüstet, Schaltern, die eine Tür öffneten und die andere gleichzeitig schlossen, anstatt abzuwarten, bis die ganze Kammer geleert und wieder mit der gewünschten Atmosphäre gefüllt war. Und diesen Schalter betätigte der PVSJ jetzt in seiner verständlichen Angst, ohne zu bemerken, daß der Besucher noch nicht ganz in der Schleuse war. Wenn also die innere Tür sich öffnete, würde die äußere den Besucher in zwei Teile schneiden! Das herrschende Durcheinander und das Geschrei waren so groß, daß Conway nicht sah, wer das Leben des Besuchers rettete, indem er einen anderen Notknopf drückte, der bewirkte, daß beide Türen sich gleichzeitig öffneten. Das rettete zwar dem SRTT das Leben, aber jetzt stand der Zugang zur PVSJ-Abteilung offen, und dicke, gelbe Chlorwolken quollen daraus hervor. Ehe Conway reagieren konnte, lösten sich bereits automatisch die Alarmsirenen aus, und gleichzeitig schlossen sich die luftdichten Schotts in der unmittelbaren Umgebung. Jetzt saßen sie alle in der Falle. Einen Augenblick mußte Conway gegen den unvernünftigen Impuls ankämpfen, auf die Schleusentür loszurennen und mit den Fäusten darauf zu trommeln. Dann dachte er daran, durch diesen giftigen Dampf zur Schleusenkammer zu rennen. Dort gab es Helme. Aber um dorthin zu gelangen, würde er seinen Atem mindestens drei Minuten anhalten und die Augen zupressen müssen, denn wenn er auch nur eine Spur von diesem Gas einatmete, würde er völlig hilflos sein. Seine chaotischen Gedanken wurden von Prilicla unterbrochen, der sagte: „Chlor ist für meine Spezies tödlich. Bitte, entschuldigen Sie mich.“ Prilicla tat etwas höchst Eigenartiges. Die langen, vielgliedrigen Beine zuckten und schlenkerten wie in einem seltsamen, rituellen Tanz, und zwei der vier Greiforgane — deren Besitz den Hauptgrund für den Ruhm dieser Spezies als Chirurgen darstellte — taten etwas höchst Kompliziertes mit etwas, das wie Plastikfolie aussah. Conway sah nicht genau, wie es geschah, aber sein GNLO-Assistent war plötzlich in eine lockere, durchsichtige Hülle gekleidet, durch die seine sechs Beine und zwei Greiforgane hervorragten — sein Körper, die Flügel und die beiden anderen Glieder, die damit beschäftigt waren, die Beinöffnungen mit irgendeiner Lösung zu besprühen, waren völlig davon bedeckt. Die Hülle blähte sich auf und wurde prall und bewies damit, daß sie luftdicht war. „Ich wußte nicht, daß Sie…“ begann Conway, und dann kam ihm plötzlich ein Gedanke, und er stieß hervor: „Hören Sie, tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Sie müssen mir schnell einen Helm holen…“ Aber seine Hoffnung erstarb ebenso schnell wieder, Prilicla konnte zweifellos einen Helm für ihn suchen, aber wie sollte das Wesen je hoffen, es bis zu dieser Schleuse zu schaffen, solange eine zuckende Masse ihnen den Weg dorthin versperrte. Ein Schlag würde ausreichen, dem GNLO ein Bein abzureißen oder sein zerbrechliches Hautskelett wie eine Eierschale zu zertrümmern. Er durfte das Wesen nicht darum bitten; das wäre der reinste Mord. Er wollte gerade seine Anweisung zurücknehmen und dem GNLO sagen, er solle hierbleiben, als Prilicla auf die Wand zurannte, die Wand hinaufeilte und dann im Chlornebel verschwand. Dicht neben ihm verkündete soeben der Interkom, daß Schleuse sechs verseucht sei. Wenn sich jemand in dieser Schleuse befinde, solle sich der Betreffende melden. Die Gaswolke hatte ihn beinahe erreicht, als Conway das Mikrofon an sich riß. „Ruhe und hört zu!“ schrie er. „Hier ist Conway in Schleuse sechs. Zwei FGLIs, zwei DBLFs, ein DBGD, alle mit Chlorvergiftung, noch nicht tödlich. Ein PVSJ in einem beschädigten Schutzanzug mit Sauerstoffvergiftung und wahrscheinlich anderen Verletzungen, und einer dort oben…“ Conway spürte plötzlich einen stechenden Schmerz in den Augen und ließ das Mikrofon fallen. Er wich zurück, bis er mit dem Rücken an die Schottentür stieß, und sah zu, wie der gelbe Dampf näherkroch. Er sah jetzt praktisch überhaupt nichts mehr, und eine Ewigkeit schien ihm zu verstreichen, bis Prilicla an der Decke über ihm auftauchte. Der Helm, den Prilicla brachte, war in Wirklichkeit eine Maske mit eigener Luftversorgung, die, wenn man sie richtig anbrachte, am Haaransatz, den Wangen und dem Unterkiefer festklebte. Der Luftvorrat reichte nur beschränkte Zeit — vielleicht zehn Minuten, doch reichte er aus, um Conway wieder klar denken zu lassen. Sein erster Weg führte ihn zu der immer noch offenstehenden Schleuse. Der PVSJ in ihr war bewegungslos und hatte eine graue Hautfarbe angenommen. Conway zog den Illensaner so vorsichtig wie möglich in seine eigene Abteilung, wo er ihn in eine Wandnische legte. Der Druck in dieser Abteilung war etwas höher als der im Sauerstoff-Flügel, und so konnte man damit rechnen, daß die Luft für illensanische Zwecke verhältnismäßig rein war. Conway schloß die Nische ab, nachdem er sich eine Handvoll gewebter Plastiklaken genommen hatte, die in dieser Abteilung anstelle von Leinen benutzt wurden. Von dem SRTT war nirgends eine Spur zu sehen. Wieder im anderen Korridor angekommen, erklärte er Prilicla, was er tun wollte — in Schleuse sechs lag eine Anzahl von Sauerstoff-Flaschen. Er nahm zwei davon und verließ die Schleuse. Prilicla hatte bereits eine bewußtlose Gestalt mit einem Laken bedeckt. Conway öffnete das Ventil der Luftflasche und schob sie unter die Decke und sah zu, wie das Laken sich langsam aufblähte. Das war zweifellos die primitivste Form eines Sauerstoffzeltes, dachte Conway, aber mehr ließ sich im Augenblick nicht machen. Er ging weitere Flaschen holen. Nach dem drittenmal bemerkte Conway die ersten Warnzeichen. Er schwitzte, sein Kopf fühlte sich an, als wollte er bersten, und große schwarze Flecken behinderten seine Sicht — sein Luftvorrat ging zur Neige. Es war höchste Zeit, daß er den Nothelm abnahm, den Kopf ebenso wie die anderen unter eine Decke steckte und wartete, bis das Rettungskommando kam. Er tat ein paar Schritte, und da schoß ihm der Boden entgegen. Sein Herz schlug dröhnend in seiner Brust, und seine Lungen brannten, und plötzlich hatte er nicht mehr die Kraft, den Helm abzunehmen. Ein Schmerz riß Conway aus seiner tiefen Bewußtlosigkeit: Etwas versuchte, ihm den Brustkasten einzuschlagen. Er schlug die Augen auf und sagte: „Aufhören, verdammt, mir fehlt nichts!“ Der hünenhafte Internist, der Conway mit großem Enthusiasmus künstlich beatmet hatte, stand auf und sagte: „Als wir ankamen, sagte dieser Weberknecht, Sie hätten aufgehört, geistig auszustrahlen. Ich hatte mir einen Augenblick Sorgen gemacht.“ Er grinste und fügte hinzu: „Wenn Sie gehen und reden können, dann möchte O’Mara Sie sprechen.“ Conway stand auf. „Vielen Dank, Doktor“, sagte er. „Keine Ursache, Doktor“, wehrte der Internist ab. Sie fanden O’Mara im Trainingszentrum. Der Chefpsychologe ließ sich nicht auf weitschweifige Erklärungen ein, sondern deutete auf einen Stuhl für Conway und eine Art surrealistischen Papierkorb für Prilicla und bellte: „Was war los?“ Als Conway geendet hatte, seufzte O’Mara und schwieg ein paar Sekunden, dann sagte er: „In Schleuse sechs waren vier unserer besten Diagnostiker, Wesen, deren Verlust sich dieses Hospital nicht leisten kann. Ihre schnelle Reaktion hat zweifellos wenigstens drei von ihnen das Leben gerettet, Sie sind also zwei Helden.“ Conway hustete verlegen. In diesem Augenblick kam ein Leutnant des Monitor-Korps ins Zimmer und ging auf O’Mara zu. „Entschuldigen Sie, Sir“, sagte er. „Ich habe etwas gefunden, was uns vielleicht bei der Suche nach dem SRTT hilft. Eine DBLF-Schwester will einen PVSJ ungefähr zur Zeit des Unfalls gesehen haben. Für einen DBLF sind PVSJs sowieso nicht besonders hübsch, aber die Schwester sagt, der hier hätte noch viel schlimmer als gewöhnlich ausgesehen. Sie sagte, es sei sicher ein Patient gewesen, der eine ganz schreckliche Krankheit…“ „Sie haben überprüft, ob wir einen PVSJ hier haben, der an dieser Krankheit leidet?“ „Ja, Sir. Keiner da.“ O’Mara blickte plötzlich grimmig drein. „Schön“, sagte er. „Sie wissen, was Sie zu tun haben.“ Er nickte dem Offizier zu. Conway hatte kaum mehr an sich halten können, und als der Leutnant jetzt den Raum verlassen hatte, platzte er heraus: „Das Ding, das ich aus der Luftschleuse kommen sah, hatte Tentakel und… und… nun, es sah jedenfalls nicht wie ein PVSJ aus. Ich weiß, daß ein SRTT seine Körperform verändern kann, aber so radikal und in so kurzer Zeit…!“ O’Mara stand auf. „Wir wissen praktisch überhaupt nichts über diese Lebensform — aber wir dürfen jedenfalls nicht zulassen, daß ein Besucher hier frei herumläuft, denn er wird schon durch reines Unwissen eine Menge Schaden anrichten. Sehen Sie sich also nach Patienten um, die Ihnen komisch vorkommen. Leutnant Carlson ist gerade in die Funkzentrale gegangen, um alle Insassen des Hospitals zu verständigen. Wenn Sie etwas finden, das vielleicht unser SRTT sein könnte, dann nähern Sie sich ihm vorsichtig. Machen Sie keine ruckartigen Bewegungen, und achten Sie darauf, ihn nicht zu verwirren. Und verständigen Sie mich sofort.“ 26 Als sie O’Maras Büro verlassen hatten, führte Conway Prilicla zur ersten ihrer Stationen und bemühte sich unterwegs, den GNLO mit wichtigen statistischen Daten des Hospitals vertraut zu machen. Die Station enthielt achtundzwanzig Babies der Klassifikation FROB — kleine, kräftig gebaute, ungeheuer starke Wesen mit einem Hornpanzer, der die Festigkeit von Stahlplatten hatte. Erwachsene Wesen dieser Spezies neigten wegen ihrer großen Masse dazu, langsam und träge zu sein, aber die Jungen vermochten sich trotz der vierfachen Erdschwerkraft und des hohen Drucks, in dem sie lebten, überraschend schnell zu bewegen. In dieser Umgebung bedurfte es eines schweren Schutzanzuges, und das unterste Stockwerk dieser Station wurde nur in äußersten Notfällen überhaupt von Ärzten aufgesucht. Man hievte vielmehr die Patienten mit Hilfe einer Art Flaschenzug in die Höhe, um sie dann in einer eigens für diesen Zweck geschaffenen Kuppel in der Decke zu untersuchen, wo man ihnen mit einer langen, extrem starken Nadel eine Spritze verpaßte. Diese Nadel wurde an der Stelle eingeführt, wo das Vorderbein an den Körper anschloß — eine der wenigen weichen Stellen am Körper eines FROB. „… Sie werden wahrscheinlich eine Menge Nadeln abbrechen, bis Sie das richtig heraushaben“, fügte Conway hinzu, „aber machen Sie sich darüber keine Gedanken.“ Sie gingen auf die FROB-Station zu Prilicla, sechs vielgliedrige und bleistiftdünne Beine bewegten sich mit verblüffender und gleichzeitig verwirrender Schnelligkeit, und Conway hatte ständig Angst, einmal auf eines zu treten — was aber nie geschah. „Um wieder auf unsere dickhäutigen kleinen Freunde zurückzukommen“, sagte Conway, „diese Unempfindlichkeit bezieht sich, besonders bei den jüngeren Angehörigen dieser Spezies, leider nicht auch auf Bakterien oder Viren, und die Kleinen…“ „… bekommen jede Krankheit“, unterbrach Prilicla. „Und wenn irgendwo eine neue Krankheit entdeckt wird, sind sie die ersten, die sich anstecken.“ Conway lachte. „Ich hatte ganz vergessen, daß die meisten ET-Krankenhäuser FROBs haben und daß Sie sie vermutlich schon kennen. Dann wissen Sie auch, daß diese Krankheiten für die Jungen nur selten tödlich verlaufen, aber daß die Therapie immer lang und kompliziert ist. Keiner von den achtundzwanzig Fällen hier ist ernsthaft, und der Hauptgrund für ihre Anwesenheit hier ist, daß wir ein neues Universalserum entwickeln wollen, womit man ihnen auf künstlichem Wege schon die Immunität gegenüber Ansteckungen beibringen möchte, die sie sich später im Leben sowieso erwerben und so… halt!“ Er stieß den Befehl im Flüsterton hervor. Prilicla erstarrte, und seine Füße mit den Saugnäpfen klammerten sich an den Boden. Dann starrten beide Ärzte das Wesen an, das gerade vor ihnen im Korridor aufgetaucht war. Auf den ersten Blick sah es wie ein Illensaner aus. Der formlose, stachelbewehrte Körper mit den trockenen Membranen, die die oberen und unteren Glieder verbanden, gehörte zweifellos der PVSJ-Gattung der Chloratmer an. Aber darüber hinaus besaß das Wesen noch zwei Tentakel, die von einem FGLI zu stammen schienen, und dazu atmete es ebenso wie sie eine an Sauerstoff reiche Luft. Das konnte nur der Ausreißer sein. Conway erinnerte sich an O’Maras strikte Anweisung, das Wesen nicht zu erschrecken und versuchte, sich etwas Freundliches und Beruhigendes auszudenken, was er zu ihm sagen konnte. Aber der SRTT rannte sofort davon, als er sie erblickte, und Conway brachte nur hervor: „Schnell, ihm nach!“ Sie erreichten die Korridorkreuzung und bogen in den Gang ein, in der der fliehende SRTT verschwunden war. Prilicla hatte sich wieder an die Decke geschwungen, um Conway nicht im Wege zu sein. Aber als Conway dann sah, was der SRTT zu tun im Begriff war, vergaß er alle Vorsätze, und er schrie: „Halt, du Narr! Nicht da hinein…!“ Der SRTT stand vor dem Eingang zur FROB-Station. Sie erreichten die Schleuse einen Augenblick zu spät und mußten hilflos durch die Luke zusehen, wie der SRTT die innere Pforte öffnete und von der vierfachen Schwerkraft erfaßt und zu Boden gerissen wurde. Dann schloß sich die innere Tür automatisch, und Prilicla und Conway konnten die Schleuse betreten und sich auf die geänderten Umweltbedingungen im Innern der Station vorbereiten. Conway fuhr mit nervöser Hast in den Schutzanzug, den er immer in der Schleusenkammer aufbewahrte, und schaltete dann seinen Schwerkraftgürtel auf den hier erforderlichen Wert. Prilicla war inzwischen mit seinen eigenen Geräten beschäftigt. Während Conway seinen Anzug noch einmal überprüfte und dabei über diese doch so nötige Zeitverschwendung fluchte, erblickte er durch eine Luke in der Schleusenwand etwas, was ihn schaudern ließ. Die pseudoillensanische Gestalt des SRTT lag an den Boden gepreßt da. Sie zuckte leicht, und schon näherte sich eines der größeren FROB-Babies, um diesen eigenartigen Gegenstand zu untersuchen. Einer der großen säulenartigen Füße mußte auf den SRTT getreten sein, denn er zuckte zurück und begann sich schnell und unglaublich zu verändern. Die schwachen, membranartigen Glieder des PVSJ schienen mit dem Hauptkörper zu verschmelzen, der sich in die knochige, echsenartige Gestalt mit den gefährlich aussehenden, zugespitzten Tentakeln verwandelte, die sie zuerst in Schleuse sechs gesehen hatten. Das war offenbar die furchterregendste Manifestation des SRTT. Aber der junge FROB besaß beinahe die fünffache Masse des anderen und empfand daher keineswegs Angst. Er senkte seinen massiven Kopf und stieß zu. Der SRTT krachte nach einem Flug von zwanzig Fuß gegen die Wand. Der FROB wollte spielen. Die Schleuse hatte sich inzwischen vor den beiden Ärzten geöffnet, und beide kletterten jetzt hastig die Treppe zur Decke hinauf, von wo aus man viel besser sehen konnte. Der SRTT veränderte sich erneut. „Doktor, können Sie den Greifer bedienen?“ schrie Conway. „Gut! Dann tun Sie es!“ Als Prilicla in die Kontrollkuppel lief, schaltete Conway seinen Schwerkraftgürtel auf Null und rief: „Ich lenke Sie von unten.“ Gewichtslos stieß er sich ab und schwebte zu Boden. Aber Conway war für das FROB-Baby kein Fremder — wahrscheinlich konnte es diese winzige Gestalt nicht leiden, deren einzige Tätigkeit darin zu bestehen schien, den FROB mit Nadeln zu stechen, während ihn irgend etwas Großes, Kräftiges festhielt. Aus diesem Grunde beschloß der FROB, Conway trotz all seinem Gestikulieren nicht zu beachten. Dafür interessierten sich jetzt andere Insassen der Station, deren ganze Aufmerksamkeit jetzt dem sich immer noch verändernden SRTT galt. „Nein!“ schrie Conway, erschreckt über die Gestalt, die der Besucher annehmen wollte. „Nein! Halt! Zurück…!“ Aber es war zu spät. Die ganze Station schien auf den SRTT zuzustampfen. Und alles brüllte, knurrte und schrie durcheinander. Die Stimmen der älteren Babies konnte man durch den Translator verstehen: „Püppchen! Püppchen! Nettes Püppchen…!“ Conway sprang in die Höhe, um nicht zu Tode getrampelt zu werden und blickte auf die wirr durcheinander trampelnde Masse von FROBs hinunter. Er war überzeugt, daß der unglückliche SRTT von diesem Leben Abschied genommen hatte. Aber nein. Das Wesen hatte es irgendwie fertiggebracht, zwischen den stampfenden Füßen hindurch — oder um sie herum — zu entkommen und lag jetzt dicht an die Wand gepreßt da. Jetzt sah man ihn ganz deutlich in der Gestalt, die er chamäleonartig in der irrigen Meinung angenommen hatte, daß eine winzige Version eines FROB ihm Sicherheit bringen würde. Conway rief: „Schnell! Den Greifer!“ Prilicla schlief nicht. Die mächtigen Kiefer des Baggers hingen bereits offen über dem benommenen SRTT, und als Conway rief, senkten sie sich und fuhren krachend zusammen. Conway sprang auf eines der Kabel zu, und als sie sich gemeinsam vom Boden hoben, redete er auf den SRTT ein: „Du bist jetzt in Sicherheit. Beruhige dich. Ich bin hier, um dir zu helfen…“ Die Antwort darauf war eine Zuckung des SRTT, die ihn beinahe vom Seil geworfen hätte, und plötzlich war aus dem Wesen eine ölige Masse geworden, die zwischen den Zähnen des Baggers hindurchrann und auf den Boden klatschte. Die FROBs tuteten erregt und griffen erneut an. Diesmal konnte es nicht überleben, dachte Conway in einem Gefühl, das sich aus Schrecken, Furcht und Ungeduld mischte; dieses Wesen, das bereits bei der Ankunft zu Tode erschrocken war und seitdem andauernd auf der Flucht gewesen war und das auch jetzt noch zu verängstigt war, um sich helfen zu lassen. Der Bagger war nutzlos, aber es gab noch eine andere Möglichkeit! An der Wand gegenüber der Einlaßschleuse, die Prilicla und er benutzt hatten, war die Tür, durch die die FROB-Patienten in die Station gebracht wurden. Conway sprang in einem langen Satz auf die Tür zu und schob sie auf. Dann sah er dem SRTT zu, wie er hindurchschritt. Conway konnte die Tür gerade noch rechtzeitig schließen, um zu verhindern, daß auch ein paar Patienten entkamen. Dann schwebte er mit Hilfe seines Schwerkraftgürtels wieder zur Kontrollkuppel hinauf, um O’Mara zu berichten. Die Situation war jetzt viel schlimmer, als sie alle gedacht hatten. Er hatte nämlich vom anderen Ende der Station aus etwas gesehen, was die Schwierigkeit, den Flüchtling zu fangen und zu beruhigen, um ein Vielfaches vergrößerte und was auch erklärte, weshalb der Besucher nicht auf seine Worte reagiert hatte, als er im Bagger gewesen war. Conway hatte die zertrampelten Überreste des Translators des SRTT gesehen. Aber der Chefpsychologe war nicht in seinem Büro. Einer seiner Assistenten konnte Auskunft geben, wo er sich befand, und so rannten sie im nächsten Augenblick ins 47. Stockwerk in die Beobachtungsstation drei. Es handelte sich um einen riesigen Raum mit hoher Decke, der unter Druck- und Temperaturbedingungen stand, die warmblütigen Sauerstoffatmern angemessen waren. Conway sah eine Gruppe von Ärzten aller Gestalten und Spezies um einen Tank mit einer Glaswand in der Mitte der Station stehen. Dann erblickte er den Psychologen an einem Interkom an der Wand und rannte auf ihn zu. O’Mara hörte ihm mit stoischer Ruhe zu, bis er den zerbrochenen Translator erwähnte. Da gebot er ihm mit einer Handbewegung Schweigen und schlug auf den Interkomschalter. „Geben Sie mir die Ingenieursabteilung, Oberst Skempton“, bellte er. Und dann: „Oberst, unser Freund ist in der FROB-Säuglingsstation. Aber es kommt noch schlimmer — er hat seinen Translator verloren…“, eine kurze Pause, und dann: „Ich weiß auch nicht, wie Sie ihn beruhigen sollen, wenn Sie nicht mit ihm reden können, aber tun Sie jedenfalls Ihr Möglichstes — ich kümmere mich inzwischen um die Funkverbindung.“ Er schaltete ab, um gleich darauf wieder einzuschalten und sagte: „Colinson in der Funkzentrale… hallo, Major. Ich möchte eine Relaisverbindung mit der Monitorforschungsgruppe auf dem Heimatplaneten des SRTT — ja, die Verbindung, die Sie mir vor ein paar Stunden schon einmal gegeben haben. Bitte, erledigen Sie das. Sie sollen ein Band in der Sprache der SRTTs herstellen — ich gebe Ihnen gleich den Text — er soll von einem erwachsenen SRTT gesprochen werden und etwa folgendermaßen lauten…“ Er brach ab, als Major Colinsons Stimme aus dem Lautsprecher dröhnte. Der Funker machte ihn darauf aufmerksam, daß der SRTT-Planet die halbe Länge der Milchstraße entfernt sei und daß das Hyperradio wie jedes andere Radio auch Störungen unterworfen sei und daß ein Signal bei dieser Entfernung praktisch unverständlich sein würde. „Dann sollen sie das Signal eben wiederholen“, sagte O’Mara. „Es wird doch wenigstens Satzteile geben, die man zusammenstellen kann, um einen Sinn herauszukriegen. Wir brauchen das dringend, und ich sage Ihnen auch warum…“ Die SRTT-Spezies war eine Rasse von äußerst langer Lebensdauer, erklärte O’Mara schnell. Sie pflanzten sich auf hermaphroditischem Wege in sehr großen Abständen und mit großer Anstrengung fort. Aus diesem Grunde bestand ein Band großer Zuneigung und — was unter den augenblicklichen Umständen noch wichtiger war — großer Disziplin zwischen den Erwachsenen und den Kindern der Spezies. Außerdem bestand die durch zahlreiche Beobachtungen erhärtete Annahme, daß, ganz gleich welche Verwandlungen ein Angehöriger dieser Spezies auch vornahm, er doch immer versuchen würde, die Stimm- und Hörorgane beizubehalten, die es ihm erlaubten, mit seinen Rassegenossen zu sprechen. Wenn daher einer der Erwachsenen auf dem Heimatplaneten ein paar allgemeine Bemerkungen zusammenstellen konnte, die sich auf Jugendliche bezogen, die sich schlecht benahmen und wenn diese „Ansprache“ über den Interkom des Hospitals durchgegeben wurde, dann würde der angeborene Gehorsam des jungen SRTT gegenüber älteren Artgenossen vermutlich die gewünschte Wirkung haben. „… Damit“, meinte O’Mara, zu Conway gewandt, als er den Interkom abschaltete, „sollte diese kleine Krise überstanden sein. Wenn wir Glück haben, hat sich unser Besucher in ein paar Stunden beruhigt. Ihre Sorgen sind also vorüber, Sie können sich ausruhen…“ Conway schüttelte den Kopf. „Nein, da ist noch etwas. Dr. Prilicla hat es entdeckt, auf empathischem Wege. Sie dürfen nicht vergessen, daß der SRTT unter furchtbarem psychologischem Druck steht — die Sorge um den Sterbenden, die Angst, die er bei Schleuse sechs empfand, als alle gleichzeitig auf ihn stürzten und jetzt die Schläge, die er in der FROB-Säuglingsstation einstecken mußte. Er ist jung, unreif, und diese Erlebnisse haben ihn in ein Stadium zurückgeworfen, wo er rein instinktiv — wie ein Tier — reagiert. Und… nun…“ Conway fuhr sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen. „… hat eigentlich schon einmal jemand darüber nachgedacht, wie lange es her ist, daß dieser SRTT zuletzt gegessen hat?“ 27 Das Wesen in dem Tank war unbeschreiblich, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es offenbar versucht hatte, gleichzeitig verschiedene Dinge zu werden, als die Auflösung begonnen hatte. Da gab es Gliedmaßen, die teils tentakelartig, teils mit Gelenken versehen waren, und die lederartige, runzelige Haut zeigte Stellen mit Schuppen und Dornen. Das Ganze war eine schlaffe, zerflossene Masse, wie ein Wachsmodell, das man zu lange in der Wärme gelassen hat. Feuchtigkeit quoll aus dem Körper des Patienten und tropfte auf den Boden des Tanks, wo sechs Zoll tief Wasser stand. Conway schluckte. Dann meinte er: „Wenn man die Anpassungsfähigkeit dieser Spezies bedenkt und ihre Unempfindlichkeit gegenüber physischen Verletzungen, so möchte ich sagen, daß der augenblickliche Zustand des Wesens sehr wohl rein psychologische Gründe haben könnte.“ Mannon, der Arzt, der einmal Conways Vorgesetzter gewesen war, starrte ihn aus großen Augen an und sagte dann mit beißender Ironie: „Psychologische Gründe, was? Erstaunlich! Was könnte denn sonst ein Wesen, das gegenüber physischen Verletzungen und Bakterieninfektionen immun ist, überhaupt in einen solchen Zustand versetzen, wenn nicht ein Schaden in seinem Denkapparat? Aber vielleicht wollen Sie das näher erläutern?“ Conway spürte, wie seine Ohren sich in Abwehr röteten. Er schwieg. Mannon knurrte und fuhr dann fort: „Diese Flüssigkeit, in die es sich auflöst, und die wie Wasser aussieht, ist auch genau das, nämlich Wasser. Wasser und ein paar harmlose Organismen, die darin gelöst sind. Wir haben jede uns bekannte Methode physischer oder psychologischer Behandlung versucht, aber ohne Ergebnis. Im Augenblick hat jemand den Vorschlag gemacht, daß wir den Patienten tiefkühlen, um den Schmelzprozeß aufzuhalten und um Zeit zu gewinnen, uns etwas anderes einfallen zu lassen. Der Vorschlag ist abgelehnt worden, weil das den Patienten töten könnte.“ Die Unterhaltung wurde beendet, und Conway eilte in die Säuglingsstation zurück. Die ganze Umgebung wimmelte von grünuniformierten Monitoren, aber bis jetzt hatte man den Flüchtling noch nicht entdeckt. Conway beorderte eine DBGD-Schwester in einem Taucheranzug in die AUGL-Station, wo eine Geburt unmittelbar bevorstand, und begab sich selbst mit Prilicla in die Methanabteilung. Sie waren dort hauptsächlich mit Routinearbeit beschäftigt, und so bedrängte Conway Prilicla mit pausenlosen Fragen über den emotionellen Zustand des alten SRTT, den sie gerade verlassen hatten. Aber der GNLO war nicht sehr mitteilsam. Er erklärte lediglich, er hätte einen Drang zur Auflösung bemerkt, den er Conway nicht besser beschreiben konnte, weil es in seinem ganzen Erinnerungsvermögen keine Bezugsmöglichkeiten auf ein solches Empfinden gab. Als sie die Station wieder verließen, stellten sie fest, daß Colinson nicht müßig gewesen war. Aus dem Wandinterkom waren knatternde Störgeräusche zu hören, aus denen man undeutliche Laute einer fremden Sprache vernehmen konnte. Der Lärm setzte plötzlich aus, und eine Stimme rief in Englisch: „Dr. Conway, bitte ans Interkom!“ Dann ging das Geheul wieder weiter. Conway eilte an den nächsten Apparat. „Hier ist Murchison in der AUGL-Schleuse, Doktor“, sagte eine besorgte Frauenstimme. „Jemand — ich meine etwas — ist gerade an mir vorbei in die Hauptstation gegangen. Ich dachte zuerst, Sie wären das, aber dann öffnete es die Innenschleuse, ohne einen Anzug anzulegen, und da wußte ich, daß es der SRTT sein mußte.“ Sie zögerte und fügte dann hinzu: „Beim Zustand der Patienten wollte ich erst Sie fragen, ehe ich Alarm gebe, aber ich…“ „Nein, das war ganz richtig, Schwester“, sagte Conway schnell. „Wir kommen gleich.“ Als sie fünf Minuten später bei der Schleuse eintrafen, hielt die Schwester einen Anzug für Conway bereit, der dem ihren aufs Haar glich — mit dem einen Unterschied, dachte Conway, daß er den seinen nicht so gut ausfüllte, wie sie das vermochte. Aber selbst Murchisons Formen konnten ihn nicht von dem Ding ablenken, das hinter der Luke schwebte. Es war Conway sehr ähnlich. Die Haarfarbe stimmte und auch die Gesichtsfarbe, und es trug einen weißen Arztmantel. Aber die Gesichtszüge stimmten in ihren Proportionen nicht und verliefen auf eine Art und Weise ineinander, daß einem übel werden konnte. Und wieder veränderte es sich. Langsam wuchsen die Arme und Beine zusammen, und lange schmale Protuberanzen bildeten sich, die nur der Anfang von Finnen sein konnten. Der SRTT paßte sich dem Wasser an. „Hinein!“ sagte Conway drängend. „Wir müssen es hinaustreiben, ehe es…“ Aber Prilicla machte keine Anstalten. „Ich habe eine Änderung in seinen emotionellen Ausstrahlungen festgestellt“, sagte der GNLO plötzlich. „Ich spüre immer noch Verwirrung und Hunger…“ „Hunger…!“ Murchison war erst jetzt klar geworden, in welcher Gefahr sich ihre Patienten befanden. „… Aber da ist noch etwas“, fuhr Prilicla fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten. „Ich kann es nur als ein Gefühl des Wohlgefallens beschreiben, verbunden mit diesem gleichen Drang zur Auflösung, die ich kurz zuvor bei dem Alten entdeckte. Aber ich verstehe nicht…“ Conway hatte im Augenblick nur Sinn für seine drei Patienten und die Gefahr, die der SRTT für sie darzustellen begann. So meinte er ungeduldig: „Wahrscheinlich kommt dieses Wohlbehagen davon, daß es ihm im Wasser gefällt…“ Plötzlich hielt er inne, und seine Gedanken drohten sich zu überschlagen. Sie kamen viel zu schnell, um sie in Worte zu fassen, ja, sie in eine logische Reihe zu bringen. Es war ein Durcheinander von Tatsachen, Vermutungen und Wissen, die sein Bewußtsein erfüllten und plötzlich eine Ordnung erfahren, klar wurden und… da wußte er es. Wenn sich ein intelligentes, reifes und geistig komplexes Wesen einer schmerzlichen und unangenehmen Situation gegenübersieht, für die es keine Lösung hat, ist das Ergebnis meist ein Rückzug aus der Realität. Zuerst der Versuch, in die Tage der von Sorgen unbelasteten Kindheit zurückzukehren und dann schließlich der Rückzug in den Mutterleib und jenen reglosen, geistlosen Zustand, den man Katatonie nennt. Aber für einen reifen SRTT war dieser fötale Zustand der Katatonie nicht leicht zu erreichen, denn sein Fortpflanzungssystem war derart, daß es sich dann als Teil des reifen, erwachsenen Körpers seines Elternteiles fand und gezwungen war, an den Entscheidungen teilzunehmen, die dieser Elternteil treffen mußte. Schließlich war ja der Körper eines SRTT, und zwar jede einzelne Zelle davon, auch Teil seines Bewußtseins, und bei Lebewesen, von denen jede einzelne Zelle austauschbar war, war eine Trennung unmöglich. Wie sollte man ein Glas Wasser trennen, ohne einen Teil davon in ein anderes Gefäß zu gießen? Der Intellekt des SRTT in seinem krankhaften Zustand würde immer weiter in die Vergangenheit zurückgetrieben werden, nur um festzustellen, daß seine Mühe, in einen nicht existenten Mutterleib zurückzukehren, zu endlosen Veränderungen und Anpassungen führte. Immer weiter würde er zurückgehen — weit, weit in die Vergangenheit — bis er schließlich jenen geistlosen Zustand erreichte, der ihm sicher schien, und bis sein Geist, der untrennbar mit dem Körper verbunden war, zu dem warmen Wasser wurde, in dem einzelliges Leben schwärmte, und aus dem er sich ursprünglich entwickelt hatte. Jetzt wußte Conway den Grund für die langsame, schmelzende Auflösung des alten SRTT. Und noch mehr. Er kannte jetzt einen Weg, der zu einer Lösung führte. Wenn er sich nur auf die Tatsache verlassen konnte, daß, wie bei den meisten anderen Spezies, ein komplizierter, reifer Geist schneller wahnsinnig wurde als ein unentwickelter junger… Wie durch einen Nebel hörte er sich am Interkom O’Mara anrufen. Murchison und Prilicla drängten sich näher heran. Dann wartete Conway eine Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, bis der Chefpsychologe auf seine Worte reagierte. „Eine geniale Theorie, Doktor“, sagte O’Mara schließlich mit ungewohnter Freundlichkeit. „Noch mehr als das — ich glaube, Sie haben genau erfaßt, was hier geschehen ist, nicht nur in der Theorie. Es ist nur schade, daß dieses Wissen dem Patienten nicht hilft…“ „Darüber habe ich auch nachgedacht“, unterbrach ihn Conway eifrig, „und ich glaube, der Ausreißer ist im Moment das dringendere Problem — wenn wir ihn nicht bald einfangen und beruhigen, gibt es Verletzte — zumindest in meiner Abteilung. Unglücklicherweise ist Ihre Idee, es mit Hilfe einer Tonbandaufzeichnung seiner eigenen Sprache zu beruhigen, nicht gerade sehr erfolgreich, um es gelinde auszudrücken…“ „Da haben Sie allerdings recht“, sagte O’Mara trocken. „… Aber“, fuhr Conway fort, „wenn wir diese Idee dahingehend abwandelten, daß der Alte oben zu dem Ausreißer spricht, wie wäre das? Wenn wir zuerst den alten SRTT kurierten…“ „Den Alten kurierten! Was, zum Teufel, glauben Sie eigentlich, haben wir die letzten drei Wochen wohl getan?“ brauste O’Mara auf. Aber er fing sich sofort wieder und erkannte, daß Conway im Augenblick alles andere im Kopf hatte, nur nicht dumme Witze. „Entschuldigen Sie, Doktor, reden Sie weiter.“ Conway gehorchte. Als er geendet hatte, war am Interkom ein lautes Aufseufzen zu hören, und dann: „Ich glaube, Sie haben die Lösung. Wir müssen es versuchen und werden es auch tun, trotz des Risikos, das Sie erwähnten“, sagte O’Mara erregt. Und jetzt klang seine Stimme plötzlich wieder abgehackt und befehlsgewohnt. „Sie übernehmen die Leitung dort unten, Doktor. Sie wissen besser, was Sie wollen, als sonst jemand. Und nehmen Sie sich den DBLF-Ruhesaal im 59. Stockwerk — der ist nahe bei Ihrer Abteilung und kann schnell evakuiert werden. Die Geräte, die Sie brauchen, sind in fünfzehn Minuten dort. Sie können sofort anfangen, Conway…“ Ehe sein Gerät abgeschaltet wurde, hörte er O’Mara Anweisungen an das Monitor-Korps geben. Sämtliches Personal der Säuglingsstation stehe ab sofort unter Conways und Priliclas Kommando — und als Conway sich umdrehte, drängten sich schon die ersten grünuniformierten Monitore in die Schleuse. 28 Irgendwie mußten sie es fertigbringen, den jungen SRTT in den DBLF-Ruheraum zu treiben, aber dazu mußten sie ihn zuerst aus der AUGL-Station herauslocken. Das war die Aufgabe von zwölf Angehörigen des Monitor-Korps, die schwitzend und fluchend in ihren schweren Anzügen herumschwammen, bis sie den Ausreißer an eine Stelle gedrängt hatten, wo sein einziger Fluchtweg die Schleuse war. Conway, Prilicla und eine Anzahl weiterer Monitore warteten im Korridor, als der SRTT durchkam. Sie hatten alle Schutzkleidung angelegt, um auf ein halbes Dutzend verschiedene Umgebungen vorbereitet zu sein, durch die die Jagd sie vielleicht führen würde. Murchison hatte auch mitgehen wollen — sie wollte am Ende dabei sein, hatte sie erklärt — aber Conway hatte ihr scharf erklärt, ihre Aufgabe sei es, über die drei AUGL-Patienten zu wachen. Der Ausreißer hatte sich erneut verwandelt — und zwar diesmal in eine Gestalt, die entfernt an die eines Erdenmenschen erinnerte. Jetzt rannte er auf gummiartigen Beinen, die an den falschen Stellen durchknickten, durch den Korridor, und die schuppige, bläuliche Haut, die er in dem AUGL-Tank besessen hatte, glättete sich zusehends und verwandelte sich in das Weiß eines Arztmantels und die rosa Farbe von menschlicher Haut. Plötzlich schlug er einen Haken, der ihn in einen MSVK-Korridor führte. Die plötzliche Wendung überraschte die Verfolger, so daß sie in wirrem Durcheinander hinter der inneren Pforte der Verbindungsschleuse zusammenstießen. Die MSVKs waren dreibeinige, entfernt an Störche erinnernde Wesen, die eine äußerst geringe Schwerkraftanziehung benötigten, an die sich DBGDs, wie Conway, nicht sofort anpassen konnten. Aber während Conway noch halb in der Luft schwebte, reagierten die Monitore dank ihrer Weltraumausbildung bereits. Der SRTT wurde wieder in die Sauerstoffabteilung zurückgetrieben. Der DBLF-Ruhesaal war nur noch ein paar Minuten entfernt, und der SRTT steuerte geradewegs darauf zu. Wieder veränderte sich das Wesen, diesmal in etwas Niedriges, Schweres, das sich auf allen vieren bewegte. Es schien sich gleichsam zu verdichten, und man hatte den Eindruck, als bilde sich ein Panzer. Es befand sich immer noch in diesem Zustand, als plötzlich zwei Monitore schreiend und wild mit den Armen herumfuchtelnd aus einem Seitengang schossen und in den Ruheraum rasten — und ihn leer fanden! Conway fluchte. Der Korridor hätte von mindestens einem halben Dutzend Monitoren bewacht sein sollen. Wahrscheinlich befanden sie sich noch im Ruheraum, um ihre Geräte aufzustellen, und der SRTT würde an der Tür vorbeirennen. Aber Conway hatte nicht mit der schnellen Reaktion Priliclas gerechnet. Sein Assistent mußte die Lage im gleichen Augenblick wie er erkannt haben. Der kleine GNLO rannte den Korridor hinunter, überholte den SRTT und schwang sich zur Decke hinauf. Conway wollte schon eine Warnung rufen und dem GNLO sagen, daß er gegen ein Wesen, das jetzt alle Merkmale einer übergroßen und äußerst behenden gepanzerten Krabbe hatte, keine Chance besäße. Aber dann sah er, was sein Assistent beabsichtigte. Etwa dreißig Fuß vor dem fliehenden SRTT stand eine motorbetriebene Tragbahre in einer Nische. Er sah Prilicla auf die Bahre zurennen, den Starterknopf drücken und weiterlaufen. Prilicla war nicht selbstmörderisch tapfer, sondern lediglich intelligent und schnell, und das zählte unter diesen Umständen viel mehr. Die Bahre setzte sich unkontrolliert in Bewegung und rollte in den Korridor hinaus — geradewegs auf den SRTT zu. Es gab ein metallisches Krachen und dann eine Wolke gelbschwarzen Rauchs, als die schweren Batterien zersprangen und kurzschlossen. Ehe die Ventilatoren den Qualm beseitigt hatten, war es den Monitoren gelungen, den benommenen und beinahe reglosen Ausreißer in den Ruheraum zu treiben. Ein paar Minuten darauf trat ein Monitoroffizier auf Conway zu. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das wirre Durcheinander von Gerätschaften, die erst vor wenigen Minuten aufgebaut worden waren, und erst jetzt sah Conway bewußt die grün uniformierten Männer, die sich an den Wänden postiert hatten und alle zur Mitte des großen Saales blickten, wo der SRTT sich langsam umdrehte und einen Fluchtweg suchte. Wenn man den Monitoroffizier ansah, spürte man, welche Neugierde er empfand, aber er war bemüht, sich davon in seiner Stimme nichts anmerken zu lassen. „Doktor Conway, nehme ich an? Nun, Doktor, was sollen wir jetzt tun?“ Conway fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Bis jetzt hatte er nicht viel darüber nachgedacht — er hatte geglaubt, es würde ihm leichtfallen, weil der junge SRTT eine solche Gefahr für das Hospital darstellte und schon soviel Unheil angerichtet hatte. Aber jetzt begann er, ihm leid zu tun. Conway zuckte die Achseln und sagte heiser: „Sie sehen dieses Tierchen da in der Mitte. Ich möchte, daß Sie ihm Todesangst einjagen.“ Er mußte das natürlich näher erklären, aber die Monitore verstanden sehr schnell und setzten die Geräte, die man ihnen geschickt hatte, mit großer Begeisterung ein. Es bestand kein Zweifel, daß der SRTT Angst hatte — Prilicla berichtete laufend über seine emotionellen Empfindungen. „Ruhe!“ schrie Conway plötzlich. „Versuchen Sie es einmal mit den leisen Sachen!“ Der Lärm vorher war nur die Einleitung gewesen. Jetzt kamen andere Dinge — doch diesmal ohne Geräusch, weil Conway hören wollte, was für Laute der SRTT von sich gab. Rings um die zitternde Gestalt inmitten des Saales platzten Raketen, die blendendes Licht, aber nur wenig Hitze von sich gaben. Gleichzeitig traten Zug- und Druckstrahlen in Aktion, die an dem SRTT herumzerrten und ihn auf dem Boden hin- und herschoben und ihn manchmal auch in die Höhe hoben oder gegen die Decke schmetterten. Die Strahlen arbeiteten nach dem gleichen Prinzip wie die Schwerkraftgürtel, ließen sich aber viel feiner einstellen. Jetzt hatte der SRTT wirkliche Angst, solche Angst, daß selbst Nichtempathen es fühlen konnten. Die verschiedenen Gestalten, die er annahm, würden Conway noch wochenlang Alpträume verursachen. Conway hob ein Handmikrofon an die Lippen und legte den Schalter um. „Schon irgendwelche Reaktionen dort oben?“ „Bis jetzt noch nicht“, dröhnte O’Maras Stimme aus den Lautsprechern an den Wänden. „Ich weiß nicht, was Sie gerade tun, aber Sie müssen noch dicker auftragen.“ „Aber das Wesen befindet sich schon im Zustand äußerster Panik…“ begann Prilicla. Conway funkelte seinen Assistenten an. „Wenn Sie’s nicht vertragen, dann verschwinden Sie!“ herrschte er ihn an. „Ruhig Blut, Conway“, war O’Maras Stimme zu hören. „Ich weiß schon, wie Sie sich fühlen, aber vergessen Sie nicht, daß das Endergebnis das alles rechtfertigt…“ „Aber wenn es nicht funktioniert?“ protestierte Conway, und dann: „Ach, lassen Sie nur.“ Zu Prilicla sagte er: „Tut mir leid.“ Dann fragte er den Offizier neben sich: „Könnten wir noch mehr Druck ausüben?“ „Ich würde vorschlagen, daß wir ihn noch herumdrehen sollten. Manche Spezies werden völlig demoralisiert, wenn man sie dreht“, sagte der Monitor. Und so kam noch eine Drehbewegung hinzu — nicht eine einfache Drehbewegung, sondern ein wildes, rollendes, stoßendes Drehen, so daß Conway schon allein vom Zusehen übel wurde. Und gleichzeitig flammten immer noch Leuchtraketen auf, zischten auf das Wesen zu und wurden wieder weggerissen. Die Männer hatten schon einen Großteil ihrer Begeisterung verloren, und Prilicla schwankte auf seinen sechs spindeldürren Beinen, als hätte ihn ein Sturmwind erfaßt. Es war falsch gewesen, Prilicla mitzunehmen, sagte sich Conway; man durfte einfach einen Empathen keiner solchen brutalen Behandlung — wenn auch nur auf Umwegen — aussetzen. Er, Conway, hatte von Anfang an einen Fehler gemacht, weil die ganze Idee grausam und sadistisch und falsch war. Er war noch schlimmer als ein Ungeheuer. Und dann begann hoch über ihm jener dunkle, sich drehende Fleck, von dem Conway wußte, daß er ein junger SRTT war, ein hohes, schrilles Geräusch von sich zu geben. Und im gleichen Augenblick ertönte chaotischer Lärm aus den Wandlautsprechern. Schreie, Rufe, splitternde Geräusche und eilige Schritte und im Hintergrund ein schweres, grollendes Knurren. Dann kam O’Maras Stimme durch. Er schrie jemand etwas zu, und dann brüllte eine ihnen unbekannte Stimme: „Um Himmels Willen, hört auf dort unten! Jetzt ist der Alte aufgewacht und schlägt uns den ganzen Saal in Trümmer…!“ Sie stellten die Drehbewegung ein, ließen den SRTT langsam zu Boden sinken und warteten dann gespannt, während das Schreien und der Lärm aus der Beobachtungsstation drei seinen Höhepunkt erreichte und langsam wieder abflaute. Die Männer an der Wand standen reglos da und sahen einander an oder musterten das Wesen auf dem Boden. Und dann kam es. Das Geräusch war ähnlich den fremdartigen Lauten, die man vor ein paar Stunden über den Interkom vernommen hatte, aber jetzt fehlten die Störgeräusche, und da alle ihre Translatoren eingeschaltet hatten, kam es in englischer Sprache durch. Es war der alte SRTT, der, jetzt physisch wieder ganz in Ordnung, besänftigend und zugleich tadelnd auf seinen Sprößling einredete. Er sagte, der Kleine sei unartig gewesen und solle nicht mehr herumrennen und alle Leute wildmachen, und es würde ihm nichts mehr passieren, wenn er den Wesen gehorchte, die mit ihm im Raum seien. Und je schneller er das täte, schloß der alte SRTT seine Ermahnung, desto eher könnten sie beide nach Hause gehen. In geistiger Hinsicht hatte der Ausreißer furchtbare Prügel bezogen, das wußte Conway. Vielleicht sogar zuviel. Gespannt sah er zu, wie das Wesen — immer noch in einer Gestalt, die weder Fisch noch Fleisch war — über den Boden humpelte. Als es dann einen der Monitore sanft und untertänig ans Knie stieß, erhob sich ein Hallo, das an Lautstärke dem Lärm vorher kaum nachstand. „Als Prilicla hier mir den Tip gab, was dem alten SRTT fehlte, war ich ziemlich sicher, daß nur eine drastische Kur ihm helfen würde“, sagte Conway zu den Diagnostikern und Seniorärzten, die rings um O’Maras Schreibtisch saßen. Der Umstand, daß er in solch erhabener Gesellschaft saß, war ein sicheres Zeichen für das Lob, das man ihm zollte, aber er war trotzdem etwas nervös, als er fortfuhr. „Meine Idee war daher, das enge physische und emotionelle Band zu benutzen, das, wie ich entdeckte, zwischen dem SRTT und seinem jüngsten Sprößling existierte. Also fingen wir den Jungen im DBLF-Ruheraum und versuchten, ihm Angst einzujagen, wobei wir die Laute, die er dabei von sich gab, hierher übertrugen. Das funktionierte. Der alte SRTT konnte einfach nicht liegenbleiben und nichts tun, während sein jüngster und am meisten geliebter Sprößling sich offenbar in schrecklicher Gefahr befand. Seine elterliche Sorge und Liebe überwanden also die Psychose und zwangen ihn in die Realität zurück. Er konnte den Kleinen beruhigen, und alle Betroffenen waren glücklich und zufrieden.“ „Eine hervorragende Schlußfolgerung, die Sie da gezogen haben, Doktor“, lobte O’Mara. „Ich muß Ihnen meine Anerkennung aussprechen…“ In diesem Augenblick unterbrach ihn der Interkom. Es war Murchison. Sie berichtete, daß der Zustand der drei AUGLs seine, Conways, Anwesenheit erforderte. Conway verlangte ein AUGL-Band für Prilicla und sich selbst und erklärte, wie dringend die Angelegenheit sei. Während sie das Band aufnahmen, begannen die Diagnostiker und Seniorärzte den Raum zu verlassen. Conway dachte etwas enttäuscht, daß Murchisons Anruf seinen vielleicht größten Augenblick zerstört hatte. „Machen Sie sich keine Gedanken, Doktor“, sagte O’Mara, der manchmal seine Gedanken zu lesen schien. „Wenn dieser Anruf fünf Minuten später gekommen wäre, wäre Ihr Kopf so angeschwollen gewesen, daß Sie das Band nicht mehr hätten aufnehmen können…“ Zwei Tage darauf hatte Conway seine erste und einzige Meinungsverschiedenheit mit Dr. Prilicla. Er behauptete, daß es ohne die Unterstützung von Priliclas empathischer Fähigkeit und Murchisons Wachsamkeit unmöglich gewesen wäre, alle drei AUGLs zu kurieren. Der GNLO erklärte, er müsse zu seinem größten Bedauern seinem Vorgesetzten widersprechen, aber Dr. Conway habe nicht recht. Murchison dagegen erklärte, es sei ihr ein Vergnügen gewesen, helfen zu können und bat um Urlaub. Conway sagte ja und setzte dann die Debatte mit Prilicla fort. Conway wußte, daß er die drei AUGLs ohne die Hilfe des kleinen Empathen nicht hätte retten können — vielleicht nicht einmal einen. Aber er war der Chef, und wenn ein Chef und seine Assistenten etwas leisten, gebührt der Ruhm dem Chef. Der Streit, wenn das der richtige Ausdruck für eine im Wesen freundliche Meinungsverschiedenheit war, dauerte Tage. Die Arbeit in der Säuglingsstation tat sich beinahe von selbst, und sie hatten keine ernsten Sorgen. Von dem Wrack, das mit einem Insassen im Augenblick zum Hospital unterwegs war, wußten sie nichts. So wußte Conway auch nicht, daß er binnen zwei Wochen der bestgehaßte Mann im ganzen Hospital sein würde. 29 Kreuzer Sheldon vom Monitor-Korps tauchte etwa fünfhundert Meilen von Sektor 12 entfernt aus dem Hyperraum auf. Das Wrack, das den eigentlichen Anlaß seines Kommens bildete, wurde vom Saugfeld seiner Hypergeneratoren sanft gegen den Rumpf gepreßt. Irgendwo in dem Wrack verborgen, das der Monitorkapitän neben sich herschleppte, gab es einen Überlebenden, der dringend ärztliche Hilfe brauchte. Der Kapitän nahm schnell Verbindung mit dem Empfang auf und schilderte seine Lage, worauf man ihm versicherte, daß man sich der Sache sofort annehmen würde. Dr. Conway saß etwas unruhig im Büro des Chefpsychologen und sah O’Mara über dessen Schreibtisch hinweg an. „Beruhigen Sie sich nur, Doktor“, sagte O’Mara plötzlich. Er hatte offensichtlich die Gedanken seines Gegenübers gelesen. „Wenn Sie hier wären, um eine Rüge erteilt zu bekommen, würden Sie nicht im Lehnsessel, sondern auf diesem Hocker dort hinten sitzen. Im Gegenteil, ich habe Anweisung, Ihnen kräftig auf die Schulter zu klopfen. Man hat Sie befördert, Doktor. Meine Gratulation. Sie sind jetzt — der Himmel stehe uns allen bei — ein Seniorarzt.“ Ehe Conway auf die Nachricht reagieren konnte, hob der Psychologe warnend die Hand. „Meiner Meinung nach ist das ein ungeheurer Fehler“, fuhr er fort, „aber offenbar hat Ihr Erfolg mit diesem sich immer wieder auflösenden SRTT und das, was Sie in der Dinosauriergeschichte geleistet haben, die Leute oben beeindruckt — die glauben nämlich, das Ganze hätte etwas mit Fähigkeiten und nicht nur mit blindem Glück zu tun. Was mich betrifft“, schloß er grinsend, „würde ich Ihnen nicht einmal meinen Blinddarm anvertrauen.“ „Sie sind sehr freundlich, Sir“, sagte Conway trocken. O’Mara lächelte wieder. „Was erwarten Sie denn? Lob? Aber ich muß Ihnen wohl eine Minute Zeit geben, damit Sie sich Ihrer neuen Würde bewußt werden…“ Conway wußte die Beförderung wohl zu schätzen. Aber eine kleine Spur Angst mischte sich auch in seine Freude. Künftig würde er ein rot eingefaßtes Armband tragen, in den Korridoren und Speisesälen vor allen — außer den anderen Seniorärzten und Diagnostikern — Vorrang haben, und wenn er irgendein Gerät oder Unterstützung brauchte, so würde es künftig genügen, die Dinge einfach anzufordern. Aber er würde auch die volle Verantwortung für ihm anvertraute Patienten tragen und sich dieser Verantwortung nicht entziehen können. Seine persönliche Freiheit würde stärker eingeschränkt werden. Zu seinen Aufgaben würde es künftig gehören, Schwestern zu unterrichten und Internisten auszubilden. Wahrscheinlich würde er sogar an irgendeinem langfristigen Forschungsprojekt mitarbeiten müssen. Diese Pflichten würden erfordern, daß er mindestens ein, vielleicht auch zwei Physiologiebänder permanent aufnahm. Und das würde nicht angenehm sein. Man erwartete von Seniorärzten, daß sie immer ein oder zwei dieser Bänder bei sich behielten, und das war, wie Conway gehört hatte, nicht gerade schön. Das einzige, was sich dazu sagen ließ, war, daß er immer noch besser daran war als ein Diagnostiker, ein Angehöriger der Elite des Hospitals, eines jener seltenen Wesen, deren Geist als stabil genug angesehen wurde, um dauernd sechs, sieben oder sogar zehn Lehrbänder gleichzeitig zu behalten. Im Hospital gab es ein Sprichwort, das man dem Chefpsychologen selbst zuschrieb, daß nämlich jedermann, der intelligent genug war, um Diagnostiker zu sein, verrückt wäre. Denn schließlich lieferten die Lehrbänder ja nicht nur physiologische Einzelheiten, sondern ihrem Gehirn wurde gleichzeitig die vollständige Erinnerung und die Persönlichkeit des Wesens, das dieses Wissen einmal besessen hatte, aufgeprägt. In der Praxis unterzog sich ein Diagnostiker also freiwillig der krassesten Form multipler Schizophrenie! Plötzlich riß ihn O’Maras Stimme aus seinen Gedanken. „… und jetzt kommen Sie sich mindestens einen Meter größer vor“, sagte der Psychologe. „Ich habe eine Arbeit für Sie. Gerade ist ein Wrack mit einem Überlebenden eingeliefert worden. Offenbar funktionieren die üblichen Methoden, dieses Wesen herauszuholen, nicht. Physiologische Klassifikation unbekannt — wir haben das Schiff nicht identifizieren können und haben daher keine Ahnung, wie das Wesen aussieht. Ich möchte, daß Sie einmal hinübergehen und versuchen, das Wesen so schnell wie möglich zur Behandlung hierherzubringen. Wie wir hören, werden seine Bewegungen im Innern des Wracks immer schwächer“, schloß er. „Die Angelegenheit ist also dringend.“ „Ja, Sir“, sagte Conway und stand schnell auf. An der Tür blieb er stehen. Später wunderte er sich über seine Frechheit, daß er das zu dem Chefpsychologen zu sagen gewagt hatte. Wahrscheinlich war ihm seine Beförderung zu Kopfe gestiegen. „Ich habe übrigens Ihren lausigen Blinddarm. Kellerman hat ihn vor drei Jahren herausgenommen. Er hat ihn in Alkohol konserviert und ihn als Schachtrophäe zur Verfügung gestellt. Ich habe sie gewonnen. Jetzt steht sie auf meinem Bücherschrank…“ O’Maras einzige Reaktion darauf war, den Kopf zu neigen, als hätte man ihm ein Kompliment gemacht. Im Korridor begab sich Conway zum nächsten Interkom und rief die Transportabteilung. „Hier ist Dr. Conway“, meldete er sich. „Ich habe einen dringenden Fall. Fremdpatient. Ich brauche ein Raumtaxi. Außerdem einen Pfleger, der mit einem Analysator umgehen kann und möglichst Erfahrung darin hat, wie man Leute aus Wracks herausfischt. Ich bin in ein paar Minuten bei Einlaßschleuse acht…“ Conway erreichte die Schleuse ziemlich schnell. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Leute auf den Gängen ihm plötzlich den Weg freimachten und ihm den Vortritt ließen. Seine Beförderung hatte sich also schon herumgesprochen — denn er trug sein neues Armband noch gar nicht. Das Wesen, das ihn bei Schleuse acht erwartete, war einer der vielbeinigen pelzbewachsenen DBLF-Pfleger, und er fing sofort zu tuten und zu pfeifen an, als Conway auftauchte. Conway stieg vor dem Pfleger durch die Schleuse, die sie wenige Sekunden später hinter sich ließen. Auf dem Heckbildschirm des Raumtaxis verschwammen die Lichter von Sektor 12 ineinander, und Conway fing an, sich Sorgen zu machen. Das war nicht das erstemal, daß man ihn zu einem Wrack rief, und er wußte sehr wohl, wie er sich zu verhalten hatte. Aber plötzlich wurde ihm klar, daß er für das, was nun geschehen würde, die alleinige Verantwortung trug — er konnte nicht um Hilfe schreien, wenn irgend etwas mißlang. Nicht, daß er das je getan hätte, aber allein das Wissen, daß er es tun konnte, hatte ihn erleichtert. Während des Flugs zum Wrack ging der DBLF, der ihm erklärte, daß sein Name Kursedd sei, Conway gründlich auf die Nerven. Das Wesen besaß überhaupt kein Taktgefühl, und wenn Conway die Gründe dafür auch kannte, machte ihm das seinen Begleiter nicht gerade sympathischer. Kursedds Spezies war nicht telepathisch veranlagt. Sie vermochten jedoch durch genaue Beobachtung des Gesichtsausdrucks die Gedanken der Angehörigen ihrer Rasse ziemlich genau zu deuten. Sie besaßen immerhin vier Stielaugen, zwei Hörantennen und ein Pelzkleid, das je nach Stimmung seidig glatt anlag oder wie das Fell eines frischgebadeten Hundes abstand — und über all diese Organe hatten sie praktisch keinerlei Kontrolle. So war leicht verständlich, daß diese raupenartige Rasse nie die hohe Kunst der Diplomatie gelernt hatte. Sie sagten immer genau das, was sie dachten, da es gegenüber einem Mitglied ihrer eigenen Rasse im höchsten Grade dumm gewesen wäre, irgendwelche höfliche Lügen auszusprechen, die der andere ohnehin durchschaute. Und dann näherten sie sich plötzlich dem Monitor-Kreuzer und dem Wrack, das daneben im Weltraum hing. Abgesehen von der orangegelben Farbe glich es den anderen Wracks, die er gesehen hatte, ziemlich stark, dachte Conway. Er wies Kursedd an, das Wrack ein paarmal zu umkreisen und trat an den vorderen Bildschirm. Auf kurze Distanz konnte man die innere Struktur des Wracks deutlich sehen, da es bei dem Unfall praktisch in zwei Teile geschnitten worden war. Es bestand aus dunklem und ziemlich normal aussehendem Metall. Die grelle Farbe des Rumpfes mußte also nachträglich aufgetragen worden sein. Das war für Conway sehr wichtig, denn aus den Farbsorten, die ein Wesen gebrauchte, konnte man auf den Sehbereich seiner Sichtorgane schließen und daraus wiederum auf die Beschaffenheit seiner Atmosphäre. Nach ein paar Minuten hatte er genug gesehen und forderte Kursedd auf, Schleuse an Schleuse mit der Sheldon zu gehen. Die Schleusenvorkammer des Kreuzers war klein und im Moment mehr als unbequem, da eine ganze Anzahl grün uniformierter Monitore darin herumstand und neugierig in einem eigenartig aussehenden Mechanismus herumstocherte — offenbar einem Wrackteil — der auf dem Boden lag. Worte im technischen Jargon eines halben Dutzends der Spezialisten schwirrten hin und her, und niemand achtete auf den Arzt und seinen Begleiter, bis Conway sich zweimal laut räusperte. Dann löste sich ein Offizier mit Majorsinsignien — ein hagerer Mann mit bereits ergrautem Haar — aus dem Gespräch und kam auf die beiden zu. „Summerfield, Kapitän“, sagte er und sah sich noch einmal nach dem Ding auf dem Boden um. „Sie sind vermutlich die Wunderdoktoren vom Hospital drüben?“ Conway war gereizt. Er verstand natürlich, wie diese Leute fühlten — ein Wrack eines interstellaren Schiffes, das einer unbekannten, fremden Kultur gehörte, war natürlich ein seltener Fund, eine technologische Schatzkammer, deren Wert niemand ermessen konnte. Aber Conway war völlig anders orientiert; fremde Artefakte rangierten in ihrer Bedeutung erst weit nach dem Studium, der Untersuchung und der Wiederherstellung fremden Lebens. Und deshalb kam er sofort zur Sache. „Kapitän Summerfield“, sagte er scharf, „wir müssen die Umweltbedingungen dieses Überlebenden so schnell wie möglich ermitteln und reproduzieren — und zwar sowohl im Hospital als auch in dem Raumtaxi, das es dorthin bringen wird. Können wir jemand bekommen, der uns das Wrack zeigen kann? Möglichst einen Offizier, der sich…“ „Natürlich“, unterbrach ihn Summerfield. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, zuckte dann aber die Achseln und wandte sich um. „Hendricks!“ bellte er. Ein Leutnant, der die untere Hälfte eines Raumanzuges trug und einen etwas verstörten Eindruck machte, trat zu ihnen. Der Kapitän stellte ihn schnell vor und kehrte dann zu dem rätselhaften Ding auf dem Boden zurück. „Wir werden schwere Anzüge brauchen“, sagte Hendricks. „Für Sie habe ich etwas, Dr. Conway, aber Dr. Kursedd ist ein DBLF…“ „Macht nichts“, warf Kursedd ein. „Ich habe einen Anzug im Taxi. Lassen Sie mir fünf Minuten Zeit.“ Der DBLF schlängelte sich auf die Luftschleuse zu, und sein Pelz hob und senkte sich in langsamen Wellen. Conway hatte schon Hendricks’ Fehler hinsichtlich Kursedds Titel verbessern wollen, hatte sich dann aber daran erinnert, daß der Gebrauch des Titels in dem DBLF offenbar eine Hochstimmung erzeugt hatte — irgend etwas mußte doch dieses Sträuben seines Pelzes bedeuten. Ob freilich dieser Ausdruck Freude und Stolz, daß man ihn als Arzt ansah, bedeutete oder ob das Wesen einfach versuchte, sich vor Lachen eines seiner vierunddreißig Beine auszureißen, wußte er nicht. Aber wichtig war das ohnehin nicht, und so beschloß Conway, gar nichts zu sagen. 30 Die nächste Gelegenheit, die Hendricks bekam, um Kursedd als „Doktor“ zu betiteln, war, als sie das Wrack betraten, aber diesmal verbarg die Schutzhülle des Raumanzuges den Ausdruck des DBLF. „Was ist hier passiert?“ fragte Conway, nachdem er sich neugierig umgesehen hatte. „Unfall, Zusammenstoß oder was?“ „Unsere Theorie ist die“, antwortete Leutnant Hendricks, „daß einer der beiden Generatorenpaare, die beim überlichtschnellen Flug das Schiff im Hyperraum festhalten, aus irgendeinem Grunde ausgefallen ist. Die eine Hälfte des Schiffes wurde also plötzlich in dem normalen Weltraum zurückgestoßen, und damit sank seine Geschwindigkeit automatisch unter die des Lichts. Folglich wurde das Schiff in zwei Teile gerissen. Der Teil mit den defekten Generatoren ist hinten geblieben“, fuhr Hendricks fort, „denn die übrigen zwei Generatoren müssen auch nach dem Unfall noch ein oder zwei Sekunden in Aktion geblieben sein. Anschließend sind zweifellos alle möglichen automatischen Sicherungen in Aktion getreten, um den Schaden zu lokalisieren, aber der Schock hatte praktisch das ganze Schiff in Stücke gerissen, also hatte das wenig Sinn. Immerhin wurde ein automatisches Notsignal ausgesendet, und wir hatten Glück, dieses Notsignal aufzunehmen. Es scheint auch, daß sich irgendwo im Innern des Schiffes noch Druck befindet, denn wir haben gehört, wie der Überlebende sich bewegte. Aber worüber ich nicht hinwegkomme“, schloß er, „ist der Zustand der anderen Wrackhälfte. Sie kann unmöglich ein Notsignal ausgeschickt haben, sonst hätten wir es auch gehört. Vielleicht ist aber auch in dieser Hälfte noch jemand am Leben geblieben.“ „Dann würden die Überlebenden mir leid tun“, sagte Conway. Und dann mit festerer Stimme: „Aber wir werden diesen hier retten. Wie stelle ich es an, daß ich näher zu ihm herankomme?“ Hendricks untersuchte die Schwerkraftanlage ihres Anzuges sowie die Lufttanks und sagte dann: „Vorläufig wird das nicht gehen. Folgen Sie mir, dann zeige ich Ihnen den Grund.“ Als sie weiter in das Wrack eindrangen, wunderte Conway sich zunächst über diese Aussage. Ihm kam das Innere des Schiffes verhältnismäßig frei vor. Erst als er seine Umgebung eingehender musterte, erkannte er den vollen Umfang des Schadens. Es gab keinen Träger, keine Platte an der Wand, nichts, was nicht gelockert oder geplatzt war. Und auf der anderen Seite des Abteils, das sie gerade betreten hatten, sah man eine schwere Tür, die aufgeschweißt worden war und rings herum Spuren von der Klebemasse, die man für Notschleusen braucht. „Ja, das ist unser Problem“, sagte Hendricks, als Conway ihn fragend ansah. „Bei dem Unfall wäre beinahe das ganze Schiff auseinandergeflogen. Wenn wir uns nicht im schwerefreien Zustand befänden, würde es wahrscheinlich um uns herum auseinanderfallen.“ Er unterbrach sich, um Kursedd behilflich zu sein, der Schwierigkeiten hatte, durch die Tür zu kommen, und fuhr dann fort: „Alle Luftschottentüren müssen automatisch geschlossen werden, aber bei diesem Zustand des Schiffes bedeutet die Tatsache, daß eine Schottentür dicht ist, nicht notwendigerweise, daß auf der anderen Seite auch Druck herrscht. Wir mußten also vor jedem Schott eine Schleuse aufbauen, und das kostet natürlich Zeit. Andererseits konnten wir nicht das Leben des Fremden aufs Spiel setzen.“ „Dann hätte man eben mehr Rettungstrupps einsetzen müssen“, sagte Conway. „Wenn auf Ihrem Schiff nicht genug sind, können wir sie ja aus dem Hospital holen. Dann würde alles schneller gehen…“ „Nein, Doktor!“ unterbrach ihn Hendricks erregt. „Warum glauben Sie wohl, warten wir fünfhundert Meilen von der Station entfernt? In diesem Schiff lagert noch ein ziemlicher Energievorrat, und solange wir nicht wissen, um was für Energie es sich handelt und wo sie aufgespeichert ist, müssen wir vorsichtig sein. Wir wollen den Fremden natürlich retten, aber wir wollen nicht alle miteinander in die Luft fliegen. Hat man Ihnen das im Hospital nicht gesagt?“ Conway schüttelte den Kopf. „Vielleicht wollten sie nicht, daß ich mir Sorgen mache.“ Hendricks lachte. „Das will ich auch nicht. Die Chancen für eine Explosion sind verschwindend gering, wenn wir mit der gebotenen Sorgfalt verfahren. Wenn dagegen Dutzende von Männern hier herumschwirren würden und ihre Nase in alle möglichen Dinge stecken, die sie nichts angehen, könnte es leicht dazu kommen.“ „Und wann glauben Sie, daß Sie den Fremden erreichen?“ fragte Conway. Das sei eine einfache Frage und doch erfordere sie eine lange, komplizierte Antwort, erklärte Hendricks. Der Fremde hätte seine Anwesenheit durch Geräusche verraten — oder genauer gesagt, durch die Schwingungen, die seine Bewegungen im Schiff verursachten. Aber der Zustand des Wracks, verbunden mit dem Umstand, daß die Bewegungen des Überlebenden von unregelmäßiger Dauer waren und immer schwächer wurden, erlaubten es nicht, seinen augenblicklichen Aufenthaltsort mit Sicherheit zu ermitteln. Im Moment arbeitete sich der Rettungstrupp auf den Mittelpunkt des Schiffes zu, wobei man von der Annahme ausging, daß dort die größte Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein eines unbeschädigten, luftdichten Raumes bestand. Die beste Schätzung lag zwischen drei und sieben Stunden. Und nachdem sie den Fremden gefunden hatten, dachte Conway, würde er dessen Atmosphäre analysieren und reproduzieren müssen, die Schwerkraft und Druckerfordernisse des Fremden ermitteln, seine Überführung in das Hospital vorbereiten und die schlimmsten Verletzungen schon vor Beginn der eigentlichen Therapie behandeln. „Viel zu lang“, sagte Conway enttäuscht. Man konnte ja schließlich nicht damit rechnen, daß der Fremde in seinem augenblicklich geschwächten Zustand unbeschränkt überlebte. „Wir werden einen Raum für ihn vorbereiten müssen, ohne ihn gesehen zu haben — etwas anderes kommt nicht in Frage. Wir tun also folgendes…“ Conway gab schnell seine Anweisung, einen Teil der Bodenplatten herauszureißen, um die Schwerkraftgitter darunter freizulegen. Alle raumfahrenden Rassen der Galaxis kannten nur eine Methode, die Schwerkraft zu neutralisieren; wenn die Spezies des Fremden das auf anderem Wege tun sollte, konnte man ihn von vornherein aufgeben. „… Die physischen Eigenschaften jeden Lebewesens“, fuhr Conway fort, „lassen sich aus seiner Nahrung, der Größe und dem Energieverbrauch der Schwerkraftgitter und Luftproben, die sich in irgendwelchen Rohren finden, ermitteln. Wenn wir darüber genügend in Erfahrung bringen können, erlaubt uns das, seine Umweltbedingungen zu reproduzieren.“ „Einige von diesen Gegenständen, die hier herumschweben, müssen Nahrungsbehälter sein“, warf Kursedd plötzlich ein. „Gute Idee“, meinte Conway und nickte. „Aber zuerst müssen wir die Luft analysieren. Dann haben wir wenigstens eine Ahnung von dem Metabolismus des Fremden, und erst dann kann man wirklich mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, in welcher Dose Farben und in welcher Sirup ist…!“ Wenige Sekunden darauf begann die Suchaktion nach der Luftversorgungsanlage des Wracks. Raumschiffe hatten gewöhnlich eine große Zahl von Röhren aller Art in jeder Kabine, aber die Zahl der Röhren, die selbst die kleinsten Räume des Schiffes durchzogen, überraschte Conway durch ihre Kompliziertheit. Zwei Stunden verstrichen, in denen sie jedes einzelne Rohr bis zur nächsten Bruchstelle verfolgten, um immer wieder feststellen zu müssen, daß es sich nicht um einen Teil der Luftversorgungsanlage handelte. Schließlich blieb nur noch ein einziges dickes Rohr übrig, bei dem es sich offenbar um den Auslaß handeln mußte, und ein dickes Bündel dünner Metallröhren, die vermutlich dazu dienten, Luft hineinzupumpen. Offenbar gab es sieben Röhren dieser Art. „Ein Wesen, das sieben verschiedene chemische…“ begann Hendricks, um dann verblüfft zu verstummen. „Nur ein Rohr führt den Hauptbestandteil“, sagte Conway. „Die anderen müssen die erforderlichen Spurenelemente tragen wie Argon, Krypton und dergleichen in unserer Atmosphäre. Wenn diese Reglerventile, die Sie an jedem Rohr sehen, sich nicht geschlossen hätten, als die Kabine ihren Druck verlor, könnten wir an der Einstellung die verschiedenen Proportionen ablesen.“ Er war bemüht, seiner Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben — eine Zuversicht, die er nicht empfand. Jetzt trat Kursedd vor. Der DBLF holte einen kleinen Schneidbrenner aus der Tasche, regulierte die Flamme, bis sie nadelspitz und sechs Zoll lang war, und berührte eine der sieben Röhren damit. Conway trat näher und hielt eine offene Probeflasche bereit. Plötzlich schoß gelber Dampf hervor, und Conway drückte den Stopfen auf die Flasche. „Dem Aussehen nach tippe ich auf Chlor“, sagte der DBLF, während er sich der nächsten Röhre annahm. „Und wenn Chlor der Hauptbestandteil dieser Atmosphäre sein sollte, könnte man den Fremden in eine PVSJ-Station bringen.“ „Ich fürchte nur“, meinte Conway, „daß es nicht ganz so einfach sein wird.“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein weißer Dampfstrahl den Raum mit Nebel erfüllte. Conway sprang instinktiv zurück und zog damit die Flamme von der angebohrten Röhre weg. Sofort trat an die Stelle des Dampfes eine klare Flüssigkeit, die in dicken Blasen herausquoll. Wie Wasser, dachte Conway, während er eine zweite Probe nahm. Das dritte Rohr ergab Sauerstoff. „Eine recht ungewöhnliche Mischung — Sauerstoff und Chlor“, meinte Hendricks. „Allerdings“, sagte Conway. „Ein Wesen, das Chlor atmet, empfindet Sauerstoff als Gift — und das gilt umgekehrt genauso. Aber eines der beiden Gase könnte ja zu einem sehr geringen Prozentsatz vertreten sein — sozusagen als Spurenelement. Aber ebenso könnten auch beide Gase Spurenelemente sein, und wir haben den Hauptbestandteil überhaupt noch nicht gefunden.“ Die vier übrigen Röhren wurden angebohrt, und Conway entnahm ihnen Proben. Kursedd dachte sichtlich über Conways Feststellung nach. Ehe sie sich zum Raumtaxi begaben, blieb der DBLF stehen. „Wenn diese Gase nur Spurenelemente sind“, sagte er mit seiner ausdruckslosen, übersetzten Stimme, „warum sind sie dann nicht von vornherein schon gemischt und werden zusammen hineingepumpt, wie das bei allen anderen Rassen der Fall ist? Sie werden ja auch nur durch ein Rohr abgeführt.“ Conway räusperte sich. Dieselbe Frage hatte auch ihn beschäftigt, und er wußte keine Antwort darauf. „Jetzt wollen wir zuerst einmal diese Proben untersuchen“, knurrte er. „Dann werden wir schon weitersehen. Und keine Sorge“, fügte er trocken hinzu. „Am Ende wird alles klar sein.“ „Hoffentlich noch während der Behandlung“, gab Kursedd zurück, „nicht erst bei der Leichenschau.“ 31 Die Katastrophe, die sich hier abgespielt hatte, war anders verlaufen als in anderen Schiffen. Gewöhnlich wurden alle beweglichen Gegenstände und eine große Zahl solcher, die man üblicherweise für unbeweglich hielt, hochgerissen und mit aller Wucht gegen die Aufprallstelle geschleudert. Hier dagegen hatte es einen kurzen, kräftigen Schock gegeben, der die Bindekräfte praktisch eines jeden Bolzens, einer jeden Schraube und einer jeden Schweißnaht im Schiff ausgelöst hatte. Den größten Schaden hatte das Mobiliar erlitten. Einem Stuhl oder einem Bett konnte man im allgemeinen die Gestalt und die Zahl der Glieder seines Besitzers mit ziemlicher Genauigkeit ablesen, ebenso, wie daraus ersichtlich war, ob das betreffende Wesen eine harte Haut hatte oder ob es zur größeren Bequemlichkeit künstlicher Auspolsterung bedurfte. Ebenso konnte man aus der Konstruktion und den verwendeten Materialien auf die von dem Wesen als normal empfundene Schwerkraft schließen. Aber Conway hatte kein Glück. Zweifellos handelte es sich bei einigen der Bruchstücke, die gewichtslos in jedem Abteil herumschwebten, um Mobiliar, aber alles war so gründlich durcheinandergemischt, daß einfach nichts einen Sinn ergab. Er überlegte schon, ob er O’Mara rufen sollte, ließ es dann aber bleiben. Den Major würde ganz bestimmt nicht interessieren, welche Schwierigkeiten er hatte. Er wühlte gerade in den Überresten eines Schrankes herum, in der verzweifelten Hoffnung, dort ein Kleidungsstück zu finden, als Kursedd nach ihm rief. „Die Analyse ist fertig“, berichtete der DBLF. „Wenn man sich die Proben einzeln ansieht, ist daran nichts Besonderes. Als Mischung wären sie für jede uns bekannte Spezies mit einem Atmungssystem tödlich.“ „Bitte, etwas genauer“, tadelte Conway. „Ich möchte genaue Daten, nicht Ihre Meinung.“ „Was die bereits identifizierten Gase angeht“, antwortete Kursedd, „wäre das Ammoniak, CO2 und zwei chemisch träge Gase. Im vermischten Zustand bilden diese Gase eine schwere giftige und beinahe undurchsichtige Atmosphäre…“ „Das ist doch unmöglich!“ rief Conway zurück. „Sie haben doch die Bilder an den Pastellfarben benutzt. Rassen, die in einer undurchsichtigen Atmosphäre leben, verstehen doch so geringe Farbunterschiede nicht…“ „Dr. Conway“, meldete sich Hendricks’ Stimme. „Ich habe das Gitter jetzt untersucht. Soweit ich feststellen kann, ist es auf fünf G eingestellt.“ Eine Anziehungskraft, die fünfmal so groß war wie die Erdnorm, bedeutete einen proportional hohen atmosphärischen Druck. Das Wesen mußte eine dicke giftige Suppe atmen — aber eine klare Suppe, fügte Conway hastig in Gedanken hinzu. Dann sagte er zu Hendricks: „Sagen Sie den Leuten von der Rettungsgruppe, sie sollen vorsichtig sein — möglichst aber, ohne daß dabei Zeit verlorengeht. Ein Wesen, das bei fünf G lebt, ist nicht gerade ein Schwächling, und Überlebende eines Wracks sind schon manchmal Amok gelaufen.“ „Ich verstehe“, antwortete Hendricks besorgt und schaltete ab. Conway wandte sich wieder Kursedd zu. „Sie haben den Leutnant gehört“, sagte er mit leiser Stimme. „Versuchen Sie es mit Kombinationen, unter hohem Druck. Und nicht vergessen — wir suchen eine klare Atmosphäre!“ Der DBLF antwortete eine Weile nicht. Dann sagte er: „Sehr wohl. Aber ich muß hinzufügen, daß ich ungern Zeit verschwende, selbst wenn man es mir befiehlt.“ Ein paar Augenblicke brauchte Conway seine ganze Selbstdisziplin, bis ihm ein Klicken in den Kopfhörern verriet, daß der DBLF den Kontakt abgebrochen hatte. Dann sagte er ein paar Worte, die selbst nach dem „Gefühlsfilter“ eines Translators bei dem DBLF keinen Zweifel daran gelassen hätten, daß er ärgerlich war. Aber dann ließ sein Ärger langsam nach. Vielleicht war Kursedd gar nicht so dumm — vielleicht hatte er recht, und diese Atmosphäre war wirklich undurchsichtig. Aber wo standen sie dann? Ein neuer Widerspruch! Das ganze Wrack steckte voll von Widersprüchen, dachte Conway müde. Die Konstruktion und der Bau deuteten nicht auf eine Spezies von hoher Schwerkraft hin — andererseits lieferten die Schwerkraftgitter bis zu fünf G. Die Bilder an den Wänden deuteten auf eine Rasse mit einem Sehbereich ähnlich dem Conways. Aber die Luft, in der sie lebten, würde nach Kursedds Meinung Radar erfordern, wenn die Wesen überhaupt sehen wollten. Und dabei hatte er noch nicht das unnötig komplizierte Lufterneuerungssystem und die grell orange bemalte Außenhülle des Schiffes bedacht! Zum zwanzigsten Male versuchte Conway, aus den ihm bekannten Einzelheiten ein sinnvolles Gesamtbild aufzubauen, aber es gelang ihm nicht. Wenn er versuchte, dem Problem von einer anderen Seite aus zu Leibe zu rücken… Er legte den Sprachschalter seines Radios um und rief: „Leutnant Hendricks, würden Sie mich bitte mit dem Hospital verbinden? Ich möchte mit O’Mara sprechen. Und dann möchte ich, daß Captain Summerfield, Sie und Kursedd mithören. Läßt sich das machen?“ Hendricks gab ein Geräusch von sich, das man als Bejahung auffassen konnte und sagte: „Einen Augenblick.“ Die strenge, vertraute Stimme O’Maras bellte: „Hier Chefpsychologe. Bitte?“ Conway schilderte die Lage auf dem Wrack so kurz wie möglich und fuhr dann fort: „Die Rettungsgruppe arbeitete sich auf den Mittelpunkt des Wracks zu, da sie größte Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß der Fremde sich dort befindet. Ebensogut kann er sich aber auch irgendwo an einer Seite befinden, und wir brauchen vielleicht Tage, um jede einzelne Kabine im ganzen Schiff zu durchsuchen. Aber der Fremde muß, wenn er nicht schon tot ist, äußerst geschwächt sein. Wir haben nicht soviel Zeit.“ „Das ist Ihr Problem, Doktor. Was werden Sie unternehmen?“ „Nun“, antwortete Conway ausweichend, „es würde mir schon helfen, die Lage in etwas allgemeineren Begriffen zu kennen. Wenn Captain Summerfield mir sagen könnte, wie er das Wrack fand — seine Lage, seinen Kurs oder irgendwelche persönlichen Eindrücke, an die er sich erinnert. Ließe sich zum Beispiel sein Ursprungsplanet finden, indem wir seine Flugrichtung nach rückwärts weiter verfolgen? Damit…“ „Leider nein, Doktor“, meldete sich Summerfields Stimme. „Wir stellten fest, daß sein Kurs durch ein nicht zu weit entferntes Sonnensystem kartographisch erfaßt und für künftige Kolonisation ins Auge gefaßt. Und das bedeutet, daß es kein eigenes, intelligentes Leben besitzt. Aber keine Rasse kann in hundert Jahren vom Nichts bis zur Raumschifftechnologie aufsteigen, also kann das Wrack nicht aus diesem System stammen. Verlängert man dagegen die Kurslinie des Schiffes nach vorne, so führt sie ins Nichts — genauer gesagt, in den intergalaktischen Raum. Meiner Meinung nach hat der Unfall den krassen Kurswechsel hervorgerufen.“ „Dann war die Idee eben nichts“, sagte Conway traurig, um dann mit entschlossenerer Stimme fortzufahren: „Aber die andere Hälfte des Wracks ist irgendwo dort draußen. Wenn wir die finden könnten, besonders, wenn dieses Wrack die Leichen anderer Mitglieder seiner Besatzung enthielte, wäre damit alles gelöst! Ich gebe zu, daß das etwas umständlich ist, aber auf die Weise könnten wir immerhin noch schneller als auf dem jetzigen Wege zum Ziel kommen. Ich möchte, daß nach der anderen Hälfte des Wracks gesucht wird“, schloß Conway. „Unmöglich!“ rief Captain Summerfield. „Sie wissen ja gar nicht, was Sie verlangen! Wir würden zweihundert Einheiten oder gar eine ganze Sektorenflotte brauchen, um die Region schnell genug abkämmen zu können. Und das nur, um einen toten Fremden zu finden, damit Sie ihn analysieren können und einem anderen Fremden helfen, der bis dahin vielleicht schon tot ist. Ich weiß, daß für Sie ein Leben wichtiger als alles andere ist“, fuhr Summerfield, etwas ruhiger geworden, fort, „aber das grenzt ja ans Lächerliche. Außerdem habe ich gar nicht die Befugnis, eine solche Operation anzuordnen, ja nur vorzuschlagen…“ „Aber das Hospital hat diese Befugnis“, mischte O’Mara sich ein, um dann, zu Conway gewandt, zu sagen: „Sie riskieren ziemlich viel, Doktor. Wenn der Fremde als Ergebnis dieser Suche gerettet wird, glaube ich, daß niemand viel über den ganzen Aufwand sagen wird. Das Monitor-Korps könnte sich sogar bei Ihnen bedanken, daß Sie ihm zum Kontakt mit einer neuen intelligenten Spezies verholfen haben. Aber wenn dieser Fremde stirbt oder es sich herausstellt, daß er schon tot war, ehe die Suche begann, dann haben Sie, Doktor, den Kopf in der Schlinge.“ Conway war nicht gerade davon begeistert, seine ganze Karriere für diesen einen Patienten aufs Spiel zu setzen, aber irgendwie trieb ihn seine Neugierde dazu. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß diese einander widersprechenden Tatsachen Teil eines Bildes ausmachten, das viel mehr als nur ein Wrack und einen einzelnen Überlebenden einschloß. Fremde Rassen bauten keine Schiffe, nur zu dem Zweck, Ärzte von der Erde zu verwirren. Also mußte das scheinbar widersprüchliche Beweismaterial doch irgend etwas bedeuten. Einen Augenblick glaubte Conway, die Antwort zu haben, aber dann riß ihn die erregte Stimme Hendricks’ aus seinen Gedanken: „Doktor, wir haben den Fremden gefunden!“ Als Conway ein paar Minuten darauf zu ihm trat, fand er eine Notluftschleuse. Hendricks und seine Leute hielten ihre Helme aneinandergepreßt, um nicht das Radio zu blockieren. Aber der wunderbarste Anblick von allem war der straff gespannte Stoff der Schleuse. Dahinter herrschte also Druck. Hendricks schaltete plötzlich das Radio ein und sagte: „Sie können hineingehen, Doktor. Jetzt, da wir ihn gefunden haben, können wir die Tür auch öffnen und brauchen sie nicht aufzuschweißen.“ Er deutete auf den straff gespannten Stoff und fügte hinzu: „Der Druck dort drinnen beträgt etwa 0,2 Atmosphären.“ Das war nicht besonders viel, dachte Conway, wenn man überlegte, daß der Fremde normalerweise in einem Schwerefeld von fünf G lebte und demzufolge unter ungeheurem Luftdruck. Er hoffte, daß der Druck ausreichte, um ihn am Leben zu erhalten. Wahrscheinlich strömte bereits seit dem Unglücksfall Luft aus. Aber vielleicht hatte sich der innere Druck des Wesens diesem verringerten Außendruck angepaßt. „Schaffen Sie schnell eine Luftprobe zu Kursedd!“ befahl Conway. Sobald sie die Zusammensetzung kannten, würde es ein Leichtes sein, den Druck zu erhöhen, wenn sie das Wesen im Raumtaxi hatten. Dann fügte er schnell hinzu: „Und ich möchte, daß vier Mann sich beim Raumtaxi bereithalten. Wir benötigen Spezialgeräte, um den Fremden hier herauszuholen, und es könnte sein, daß ich die Geräte sehr dringend brauche.“ Dann betrat er mit Hendricks die winzige Schleuse. Der Leutnant überzeugte sich, daß die Schleuse luftdicht schloß, betätigte dann den Handschalter neben der Tür und richtete sich auf. Ein ächzendes Geräusch von Conways Anzug verriet, daß der Druck stieg, als die Luft von außerhalb der Schleuse einströmte. Conway stellte befriedigt fest, daß es sich um klare Luft handelte und nicht um den dichten Nebel, den Kursedd prophezeit hatte. Die luftdichte Tür glitt zur Seite und gab ihnen den Weg frei. „Kommen Sie nicht nach, falls ich Sie nicht rufe“, sagte Conway leise und trat durch die Schleuse. Er hörte in seinen Kopfhörern ein zustimmendes Brummen von Hendricks und kurz darauf Kursedds Mitteilung, daß er alles auf Band aufnähme. Der erste Anblick eines neuen physiologischen Typs war für Conway immer verwirrend. Er versuchte immer wieder, seine physikalischen Attribute anderen Spezies zuzuschreiben, die er kannte, und dieser Vorgang nahm immer eine gewisse Zeit in Anspruch. „Conway!“ kam plötzlich O’Maras Stimme durch. „Sind Sie eingeschlafen?“ Conway hatte vergessen, daß O’Mara, Summerfield und die verschiedenen Radiooperateure immer noch mit ihm in Verbindung standen. Er räusperte sich und begann hastig zu berichten: „Das Wesen hat Ringform, etwa wie ein großer Ballonreifen. Der Gesamtdurchmesser des Ringes beträgt etwa neun Fuß und die Dicke zwischen zwei und drei Fuß. Die Masse scheint etwa das Vierfache der meinen zu sein. Ich sehe keine Bewegungen und auch keine Anzeichen schwerer Verletzungen.“ Er atmete tief und fuhr fort: „Die Haut ist glatt und von grauer Farbe, soweit sie nicht mit einer dicken, bräunlichen Kruste bedeckt ist. Die braune Substanz, die etwa die Hälfte der gesamten Hautoberfläche bedeckt, sieht karzinomatös aus, es kann sich aber auch um irgendeine natürliche Tarnung handeln. Vielleicht ist das auch eine Auswirkung von starker Dekompression. Die äußere Oberfläche des Ringes enthält eine doppelte Reihe kurzer, tentakelähnlicher Glieder, die im Augenblick flach am Körper anliegen. Insgesamt sind es fünf Paar, und ich sehe keine Anzeichen irgendwelcher Spezialisierung. Ich kann auch keinerlei Gesichtsorgane oder Organe zur Nahrungsaufnahme erkennen. Ich werde mir unseren Freund näher ansehen müssen.“ Als er sich dem Wesen näherte, gab es keine sichtbare Reaktion, und er fragte sich schon, ob er vielleicht zu spät kam. Es war immer noch keine Spur von Augen oder Mund zu sehen, aber er erkannte jetzt kleine kiemenartige Öffnungen und etwas, das wie ein Ohr aussah. Er berührte vorsichtig eines der abgeknickten Gliedmaßen. Und da schien das Wesen plötzlich zu explodieren. Conway wurde zu Boden geschleudert, und sein ganzer rechter Arm war von dem Schlag gefühllos, der, hätte er keinen G-Anzug getragen, sein Handgelenk zerschmettert hätte. Er drehte verzweifelt am Schalter seines Schwerkraftgürtels herum, um am Boden zu bleiben, und kroch dann rückwärts zur Tür. Langsam kristallisierten sich zwei Fragen aus dem Durcheinander von Worten und Rufen in seinen Kopfhörern heraus: Warum er geschrien habe und was diese klopfenden Geräusche zu besagen hätten! Conway sagte benommen: „Ich habe festgestellt, daß das Wesen lebt…“ Hendricks, der zusah, gab einen halberstickten Laut von sich. „Ich glaube nicht“, sagte er beinahe ehrfürchtig, „daß ich je etwas Lebendigeres gesehen habe.“ „Vielleicht wollen Sie zur Sache kommen, Sie beide!“ herrschte O’Mara sie an. „Was geschieht jetzt?“ Diese Frage war schwer zu beantworten, dachte Conway, als er dem reifenartigen Wesen zusah, wie es in der Kabine herumrollte. Der physische Kontakt mit dem Fremden hatte eine Panikreaktion ausgelöst. Conway war zweifellos beim erstenmal die Ursache gewesen, jetzt aber schien es, als ob jede Berührung — ganz gleich, ob eine Berührung mit der Wand, dem Boden oder irgendwelchem losen Gerümpel, das im Raum herumschwebte — das gleiche Ergebnis hätte. Fünf Paare starker biegsamer Glieder peitschten in einem Radius von einem Meter hinaus, und zwar mit solcher Vehemenz, daß das Wesen selbst durch den ganzen Raum rutschte. Conway konnte sich gerade noch in die Notschleuse retten, und in diesem Augenblick schwebte der Fremde plötzlich hilflos in der Mitte der Kabine, wobei er sich langsam drehte und eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einer der alten Raumstationen aufwies. Aber dann schwebte er wieder auf eine der Wände zu, und er, Conway, mußte jetzt schleunigst etwas unternehmen, ehe das Wesen wieder herumzutoben begann. Ohne sich im Augenblick um O’Mara zu kümmern, sagte Conway schnell: „Wir brauchen ein feinmaschiges Netz und eine große Plastikhülle, in die wir den Fremden hineinpacken können, und einen Satz Pumpen. In dem augenblicklichen Zustand ist mit keinerlei Unterstützung seitens des fremden Wesens zu rechnen. Wir können es aber, sobald es einmal in der Plastikhülle steckt, seine eigene Luft hineinpumpen, und das dürfte ausreichen, bis wir das Raumtaxi erreichen. Bis dahin sollte Kursedd fertig sein. Aber beeilen Sie sich mit diesem Netz!“ Wie ein an hohen Luftdruck gewöhntes Wesen in einer stark verdünnten Atmosphäre eine derartige Aktivität entwickeln konnte, verstand Conway einfach nicht. „Kursedd, was macht die Analyse?“ fragte er plötzlich. Es dauerte lange, bis die Antwort kam, so daß Conway schon annahm, der DBLF hätte sein Gerät abgeschaltet, aber letzten Endes meldete sich die gefühllose Metallstimme: „Sie ist komplett. Die Zusammensetzung der Luft in der Kabine des Überlebenden ist derart, daß Sie sie selbst atmen könnten, Doktor, wenn Sie Ihren Helm abnehmen würden.“ Und das, dachte Conway benommen, war der verrückteste Widerspruch. 32 Sechs Stunden darauf, von denen jede Minute eine Strapaze gewesen war, hatten sie den Fremden in Station 310 B gebracht, einen kleinen Beobachtungsraum mit anschließendem OP-Saal, der der DBLF-Chirurgiestation angegliedert war. Conway wußte nicht, ob er den Fremden kurieren oder lieber sterben lassen sollte, und Kursedd und die Monitore befanden sich, ihren Bemerkungen nach zu schließen, in einem ähnlichen Gewissenskonflikt. Conway stellte eine Voruntersuchung an, in der er dem Fremden Blut- und Hautproben entnahm. Er klebte rote Zettel mit der Aufschrift: ÄUSSERST DRINGEND darauf und schickte sie in die pathologische Abteilung. Kursedd brachte die Proben persönlich hinauf, anstatt sie der Rohrpostanlage anzuvertrauen, da die Leute von der Pathologie im Hinblick auf derartige Zettel chronisch farbenblind waren. Schließlich gab Conway noch die Anweisung, Röntgenaufnahmen zu machen, übertrug Kursedd die weitere Beobachtung des Patienten und begab sich zu O’Mara. Als dieser seinen Bericht zu Ende gehört hatte, meinte O’Mara: „Das schlimmste haben Sie jetzt hinter sich, aber Sie wollen diesen Fall wahrscheinlich weiter bearbeiten?“ „Ich… glaube nicht“, antwortete Conway. O’Mara runzelte die Stirn. „Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie es nur zu sagen. Ich mag es nicht, wenn man so lange um den heißen Brei herumredet.“ Conway atmete tief und sagte dann langsam und betont deutlich: „Ich möchte den Fall weiter bearbeiten. Der Zweifel, den ich äußerte, liegt nicht daran, daß ich mich nicht entscheiden kann, sondern bezieht sich auf Ihre irrige Annahme, daß das Schlimmste vorbei sei. Das ist es nämlich nicht. Ich habe eine Voruntersuchung angestellt und beabsichtige, morgen eine eingehendere Untersuchung anzustellen, sobald mir die Testergebnisse vorliegen. Und ich möchte, daß dann, wenn möglich, Dr. Mannon und Dr. Prilicla, sowie Oberst Skempton und Sie anwesend sind.“ O’Mara hob die Brauen. „Eine eigenartige Auswahl, Doktor“, meinte er. „Möchten Sie mir sagen, wozu Sie uns brauchen?“ Conway schüttelte den Kopf. „Das möchte ich lieber jetzt noch nicht tun.“ „Also gut, wir kommen“, versprach O’Mara nicht sonderlich begeistert. „Und jetzt legen Sie sich endlich schlafen, Doktor, ehe Ihnen die Augen von selber zufallen.“ Erst jetzt bemerkte Conway, wie müde er war, und ein wenig schwankend ging er auf sein Zimmer. Am nächsten Morgen verbrachte Conway zwei Stunden mit seinem Patienten, ehe er die Konsultation einberief, die er mit O’Mara besprochen hatte. Alles, was er bisher herausgefunden hatte — und das war nicht sehr viel — besagt, daß er dem Wesen nicht viel helfen konnte, ohne einige Spezialisten hinzuzuziehen. Dr. Prilicla, das spinnenartige, zerbrechliche Wesen der Klassifikation GNLO, kam als erster. O’Mara und Oberst Skempton, der Leitende Ingenieuroffizier des Hospitals, trafen zusammen ein. Dr. Mannon, der noch eine eilige Operation im DBLF-OP-Saal hatte beenden müssen, kam als letzter. Er war außer Atem und rannte zuerst zweimal um den Patienten herum. „Sieht aus wie ein Napfkuchen“, sagte er. „Mit Entenmuscheln.“ Alle sahen ihn an. „So einfach und harmlos sind die aber nicht“, meinte Conway und schob das Röntgenbetrachtungsgerät vor. „Es handelt sich vielmehr um einen Ausschlag, der nach Ansicht der pathologischen Abteilung bösartig ist. Und wenn Sie hier durchsehen, werden Sie feststellen, daß es kein Napfkuchen ist, sondern das Wesen eine ziemlich normale Anatomie vom Typ DBLF besitzt, einen zylindrischen, dünnknochigen Körper mit kräftiger Muskulatur. Das Wesen ist gar nicht ringförmig, sondern macht nur diesen Eindruck, weil es aus irgendeinem Grund, den es wahrscheinlich selbst am besten kennt, versucht hat, seinen Schmerz zu verschlucken.“ Mannon starrte auf den Bildschirm des Röntgenbetrachters, brummte ungläubig und richtete sich dann auf. „Ein circulus vitiosus würde ich sagen. Ist deshalb O’Mara hier? Sie glauben wohl, der Bursche hätte nicht alle Tassen im Schrank?“ Conway ignorierte die Frage. Er fuhr fort: „Der Ausschlag ist am stärksten, wo der Mund und der Schwanz des Patienten zusammenkommen — ja, er ist an dieser Stelle so dicht, daß man die Nahtstelle kaum sehen kann. Wahrscheinlich ist dieser Ausschlag schmerzhaft oder zumindest unangenehm, und ein unerträglicher Juckreiz könnte sehr wohl die Tatsache erklären, daß das Wesen sich in den Schwanz beißt. Eine andere Möglichkeit ist die, daß der Ausschlag einen Muskelkrampf hervorgerufen hat, eine Art epileptischen Anfall sozusagen…“ Er ließ seinen Zuhörern Zeit, sich darüber eine eigene Meinung zu bilden und fuhr dann fort: „Ich habe trotz der künstlichen Schwerkraftanlage in dem Wrack festgestellt, daß die Luft-, Druck- und Schwerkrafterfordernisse des Patienten unseren eigenen sehr ähnlich sind. Diese Kiemenöffnungen hinter dem Kopf, die der Ausschlag noch nicht erreicht hat, sind Atemöffnungen. Die kleineren Löcher, die teilweise von Muskelklappen bedeckt sind, sind Ohren. Der Patient kann also hören und atmen, aber nicht essen. Sie teilen doch alle meine Meinung, daß als erster Schritt der Mund freigelegt werden sollte?“ Mannon und O’Mara nickten. Prilicla spreizte seine vier Greifarme in einer Geste, die ebenfalls Zustimmung bedeutete, und Oberst Skempton starrte ausdruckslos zur Decke und fragte sich ganz offensichtlich, was er hier eigentlich verloren hatte? Aber Conway ließ ihn nicht lange im unklaren. Während Mannon und er den Verlauf der Operation festlegten, sollten der Oberst und Dr. Prilicla für die Verständigung sorgen. Der GNLO konnte mittels seiner empathischen Fähigkeiten versuchen, eine Reaktion zu spüren, während zwei von Skemptons Translatortechnikern Geräuschtests anstellen sollten. Sobald der Hörbereich des Patienten bekannt war, konnte man einen Translator für seine Bedürfnisse einstellen, und dann würde das Wesen ihnen, was Diagnose und Behandlung seiner Krankheit betraf, helfen können. „Der Raum hier ist sowieso schon überfüllt“, sagte der Oberst. „Ich werde das selbst erledigen.“ Er trat an den Interkom, um die benötigten Geräte zu bestellen. Conway wandte sich O’Mara zu. „Sagen Sie es nicht, lassen Sie mich raten“, begann der Psychologe, ehe Conway beginnen konnte. „Ich bekomme natürlich die leichteste Aufgabe — ich soll den Patienten beruhigen, sobald wir mit ihm sprechen können und ihn davon überzeugen, daß ihr beiden Fleischer ihm nicht wehtun wollt.“ „Genau das“, sagte Conway grinsend und wandte sich wieder seinem Patienten zu. Der Ausschlag bedeckte die Nahtstelle zwischen dem Mund und dem Schwanz des Patienten wie eine zähe, faserige Baumrinde. Mannon deutete auf das verschwommene Bild auf dem Bildschirm und sagte heftig: „Dieses Biest hat sich ja ganz anständig gekratzt! Die Zähne haben sich richtig festgebissen — es hat sich ja praktisch den Schwanz abgebissen! In diesem Falle handelt es sich bestimmt um einen epileptischen Zustand, würde ich sagen. Sonst müßte eine solche Selbstverstümmelung schon auf einen schweren geistigen Defekt hindeuten…“ Jetzt trafen Skemptons Geräte ein, und Prilicla und der Oberst machten sich an die Arbeit, einen Translator auf den Patienten abzustimmen. Da das Wesen praktisch bewußtlos war, mußten die Testgeräusche von sehr hoher Intensität sein, und so blieb Mannon und Conway nichts anderes übrig, als ihre Diskussion im Korridor fortzusetzen. Eine halbe Stunde später kam Prilicla heraus, um sie davon zu verständigen, daß sie jetzt zu dem Patienten sprechen konnten; der Geist des Wesens schien jedoch nur teilweise bei Bewußtsein zu sein. Sie eilten hinein. O’Mara sagte gerade, sie seien alle Freunde und empfänden Sympathie für den Fremden und würden alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihm zu helfen. Er redete mit leiser Stimme, und sein Translator gab die Worte als eine Reihe fremdartiger Zirplaute von sich. „Sagen Sie ihm, daß ich ihn jetzt berühren werde“, sagte Conway zu O’Mara. „Sagen Sie ihm, daß es mir leid tut, wenn ich ihm Schmerz verursache. Aber ich meine es gut mit ihm.“ Er nahm eine lange, nadelspitze Sonde und berührte vorsichtig die Stelle, wo der Ausschlag am dicksten war. Der GNLO berichtete keine Reaktion. Conway schaltete den Translator des Patienten ab und sagte: „Das hatte ich gehofft. Wenn die befallenen Stellen schmerzunempfindlich sind, können wir vielleicht den Mund freibekommen, ohne Anästhesie anzuwenden. Im Augenblick kennen wir nämlich den Metabolismus des Wesens noch nicht gut genug, um eine Narkose riskieren zu können — am Ende töten wir es damit.“ Er schaltete den Translator wieder ein und sagte leise: „Wir wollen Ihnen helfen. Zuerst wollen wir Ihren Mund freilegen…“ Plötzlich beulte sich das Schutznetz aus, und fünf Paar Tentakel schlugen wütend nach allen Seiten. Conway sprang mit einem Fluch zurück. „Furcht und Angst“, erklärte Prilicla und fügte dann hinzu: „Das Wesen… es scheint Gründe für diese Empfindungen zu haben.“ „Aber warum? Ich will ihm doch helfen…!“ Der Patient schlug wie ein Berserker um sich. Priliclas zerbrechlicher Körper geriet ins Zittern, so stark war die emotionelle Ausstrahlung des Fremden. Einer der Tentakel des Fremden, ein Glied, das aus der mit Ausschlag behafteten Stelle hervorragte, verwickelte sich in das Netz und riß ab. Diese blinde, unvernünftige Panik, dachte Conway niedergeschlagen. Aber Prilicla hatte gesagt, daß der Fremde einen Grund für diese Reaktion hatte. Conway fluchte: alles an diesem Fremden war voller Widersprüche. „So!“ sagte Mannon aufatmend, als der Patient sich wieder beruhigt hatte. „Furcht, Angst, Haß“, berichtete der GNLO. „Ich würde sagen, daß er entschieden Ihre Hilfe nicht haben will.“ „Dieses Biest ist wirklich krank“, meinte O’Mara grimmig. Conway wünschte sich nichts sehnlicher, als daß ihn alle jetzt alleinließen, damit er in Ruhe nachdenken konnte. Noch lieber wäre er davongerannt und hätte sich irgendwo versteckt. Als er dann sprach, erkannte er seine eigene Stimme nicht mehr: „Vielen Dank, meine Herren. Ich muß mir etwas anderes überlegen. Ich verständige Sie dann wieder…“ Alle starrten ihn an. Wahrscheinlich dachten sie jetzt, daß er sich keinen Rat mehr wußte und sich vor der komplizierten Operation fürchtete. Sie versuchten, ihn aufzumuntern. Selbst Skempton machte einen Vorschlag. „… Wenn Ihr Hauptproblem ein sicheres Anästhetikum ist“, meinte der Oberst, „wäre es da nicht möglich, daß die pathologische Abteilung so etwas aus einem toten oder verletzten Wesen entwickelt? Ich denke an die Suchaktion, die Sie vorher vorgeschlagen haben. Ich glaube, jetzt wäre der Zeitpunkt da, sie anzuordnen. Soll ich…?“ „Nein!“ Jetzt verstanden sie ihn überhaupt nicht mehr. Besonders O’Mara schien an Conway zu zweifeln. So erklärte er schnell: „Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß Summerfield mich noch einmal angerufen hat. Er sagt, seine Untersuchungen hätten jetzt ergeben, daß das Wrack nicht die weniger beschädigte Hälfte des ursprünglichen Schiffes ist, sondern die Hälfte, die bei dem Unfall hauptsächlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die andere Hälfte, sagt er, habe sich wahrscheinlich noch in so gutem Zustand befunden, daß sie unter eigener Kraft nach Hause fliegen konnte. Unter diesen Umständen wäre die Suche natürlich sinnlos.“ Conway hoffte verzweifelt, daß Skempton sich damit zufriedengeben würde. Summerfield hatte sich zwar noch einmal gemeldet, aber keineswegs eine so eindeutige Aussage gemacht, wie Conway sie wiedergegeben hatte. Aber der Gedanke, daß eine Suchpatrouille des Monitor-Korps jetzt begann, den Raum abzusuchen, trieb Conway den Schweiß aus den Poren. Seit ein paar Minuten ahnte er nämlich etwas… Aber der Oberst nickte nur und ließ das Thema fallen. Conway wußte, daß er zu seinen Kollegen — die teilweise einen höheren Rang hatten als er — äußerst unhöflich war. Wahrscheinlich würde O’Mara ihm später auch deswegen Vorhaltungen machen, aber im Augenblick war ihm das völlig gleichgültig. Als sie schließlich gegangen waren, wies er Kursedd an, sich jede halbe Stunde vom Zustand des Patienten zu überzeugen und ihn, Conway, zu verständigen, falls sich irgend etwas änderte. Dann eilte er in seine Kabine. 33 Conway hatte sich schon oft über die winzigen Ausmaße seiner Kabine beklagt, aber jetzt empfand er diese Tatsache als beruhigend. Er setzte sich, da er zum Auf- und Abgehen keinen Platz hatte. Jetzt konnte er zum erstenmal versuchen, die noch fehlenden Steine zu dem Mosaik zusammenzutragen, dessen Umrisse ihm plötzlich in der Station klar geworden waren. Eigentlich hätte er es von Anfang an merken müssen. Zuerst einmal waren da die Schwerkraftgitter des Wracks — Conway hatte in seiner Blindheit völlig übersehen, daß sie gar nicht bei voller Kraft arbeiten mußten, sondern auf eine beliebige Intensität zwischen Null und fünf G eingestellt werden konnten. Und dann die Anlage der Luftversorgung — die einen nur dann verwirrte, wenn man nicht bedachte, daß sie für verschiedene Lebensformen und nicht nur für eine bestimmt war! Und dann der Zustand des Überlebenden und die Farbe des Schiffsrumpfes — ein auffälliges Orange. Erdschiffe dieser Art, selbst solche, die nur auf Planeten verkehrten, waren traditionell weiß gestrichen. Das Wrack war ein Ambulanzschiff. Aber interstellare Schiffe jeder Art waren Produkte einer fortgeschrittenen technischen Kultur, die sich über viele Sonnensysteme erstreckte. Und wenn eine Kultur den Punkt erreichte, der hier erreicht worden war, dann handelte es sich außer Zweifel um eine sehr weit fortgeschrittene Rasse. In der galaktischen Föderation hatten nur die Kulturen von Illensa, Traltha und Terra dieses Stadium erreicht, und ihre Einflußsphären waren ungeheuer. Wie konnte eine Kultur dieser Größe so lange verborgen geblieben sein? Conway runzelte die Stirn. Er besaß auch die Antwort auf diese Frage. Summerfield hatte gesagt, das Wrack sei die am schwersten beschädigte Hälfte eines Schiffes, dessen andere Hälfte vermutlich aus eigener Kraft zum nächsten Reparaturstützpunkt weitergeflogen war. Die Hälfte mit dem Überlebenden mußte also bei dem ursprünglichen Unfall von dem Schiff abgerissen worden sein, und das bedeutete, daß die Kurskonstanten dieses antriebslosen Fragments dieselben waren wie sie das Schiff als Ganzes vor der Katastrophe gehabt hatte. Das Schiff kam also von einem Planeten, der als unbewohnt in den Sternkatalogen stand. Aber im Laufe von hundert Jahren konnte jemand dort einen Stützpunkt, ja sogar eine Kolonie errichtet haben. Und das Ambulanzschiff hatte sich von dieser Welt entfernt und war in den intergalaktischen Raum vorgestoßen! Eine Kultur, die den Abgrund zwischen den Milchstraßen überwunden hatte, um eine Kolonie am Rand dieser Galaxis zu errichten, dachte Conway grimmig, mußte mit großem Respekt behandelt werden. Und mit Vorsicht. Besonders da man von ihrem einzigen bis jetzt bekannten Vertreter bei aller Toleranz nicht sagen konnte, daß es sich um ein ausgesprochen „nettes“ Wesen handelte. Und die Rasse dieses Fremden, die in medizinischer Hinsicht vermutlich sehr weit fortgeschritten war, würde vielleicht die Nachricht, daß jemand einen ihrer Kranken schlecht behandelte, nicht gerade freundlich hinnehmen. Im Augenblick hatte es überhaupt nicht den Anschein, als würden sie irgend etwas freundlich hinnehmen, dachte Conway. Interstellare Eroberungskriege waren vom logistischen Standpunkt aus unmöglich, das wußte Conway. Aber das galt nicht für Vernichtungskriege, wo planetarische Atmosphären zur Explosion gebracht oder sonst unbrauchbar gemacht wurden, ohne daß jemand überhaupt daran dachte, den betreffenden Planeten einmal zu besetzen. Conway vergegenwärtigte sich seinen Patienten und überlegte, ob sie nicht zu guter Letzt einmal auf eine völlig bösartige und feindlich gesinnte Rasse gestoßen waren. Plötzlich summte der Interkom. Es war Kursedd. Er meldete, der Patient habe sich die letzte Stunde ruhig verhalten, sein Ausschlag scheine sich aber schnell auszubreiten und drohe jetzt die Atemöffnungen zu bedecken. Conway versprach sofort zu kommen. Dann ließ er Dr. Prilicla rufen und setzte sich wieder auf sein Bett. Sollte er es wagen jemand von seiner Entdeckung zu berichten, überlegte Conway. Aber das würde zweifellos dazu führen, daß eine Monitorstreife vorschnell versuchte, Kontakte herzustellen — vorschnell in bezug auf Conway. Er hatte nämlich Angst, daß das erste Zusammentreffen zwischen den beiden Kulturen zu einer ideologischen Kollision führen würde, und die einzige Möglichkeit, diese Kollision zu vermeiden bestand darin, daß die Föderation zeigte, daß sie einen der intergalaktischen Kolonisten gerettet, ärztlich betreut und kuriert hatte. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß der Patient für seine Rasse nicht typisch war, daß er, wie O’Mara gemeint hatte, geisteskrank war. Aber Conway bezweifelte, ob die Fremden das als eine Entschuldigung dafür anerkennen würden, daß sie ihn nicht kuriert hatten. Einen Augenblick beschäftigte Conway der Gedanke, ob es so etwas wie einen contra-terrenen Geist gab, einen Geist, in dem jede Hilfe ein Haßgefühl anstatt eines Gefühls der Dankbarkeit erzeugte. Ehe er die nächste Untersuchung begann, befragte er Prilicla über den emotionellen Zustand des Patienten, erfuhr jedoch nichts Neues. Das Wesen lag jetzt reglos und praktisch ohne Bewußtsein da. Als Conway über den Translator auf den Fremden einredete, strahlte es Furcht aus. „Ich tue Ihnen nichts zuleide“, sagte Conway langsam und deutlich. Er trat näher an den Patienten heran. „Aber ich muß Sie berühren. Bitte glauben Sie mir, ich meine es gut.“ Er sah Prilicla fragend an. Der GNLO sagte: „Furcht und… und Hilflosigkeit. Und ein stoisches Hinnehmen seiner Lage, verbunden mit Drohungen… nein, Warnungen. Offenbar glaubt er Ihnen, versucht aber, Sie vor etwas zu warnen.“ Das klang vielversprechender, dachte Conway. Der Fremde warnte ihn, aber es machte ihm nichts aus, wenn er, Conway, ihn berührte. Er trat näher und berührte das Wesen vorsichtig mit der behandschuhten Hand an einer der noch nicht von dem Ausschlag befallenen Hautstellen. Er zuckte zusammen, so heftig war der Schlag, der seinen Arm wegfegte. Er fuhr hastig zurück, rieb sich den Arm und schaltete den Translator ab, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Nach einer respektvollen Pause meinte der GNLO: „Wir haben jetzt eine sehr wichtige Beobachtung gemacht, Dr. Conway. Die Gefühle des Patienten gegenüber Ihnen sind trotz der physischen Reaktion genau die gleichen wie sie vor der Berührung waren.“ „Na und?“ fragte Conway gereizt. „Also muß es sich um eine unwillkürliche Reaktion handeln.“ Conway überdachte das eine Weile und meinte dann: „Das bedeutet, daß wir kein allgemeines Anästhetikum verwenden können, selbst wenn wir eines hätten, denn das Herz und die Lunge haben auch Reflexmuskeln. Das kompliziert die Dinge wieder. Wir können ihn also nicht in Narkose versetzen, und freiwillig läßt er sich auch nicht behandeln.“ Er trat an das Schaltbrett und drückte einen Knopf. Die Klammern, die das Netz hielten, öffneten sich, und das Netz selbst wurde von einer Greifzange weggezogen. Dann fuhr Conway fort: „Er verletzt sich immer wieder an diesem Netz. Sie sehen — hier hat er sich beinahe wieder einen Tentakel abgerissen.“ Prilicla protestierte gegen die Entfernung des Netzes und meinte, wenn der Patient sich frei bewegen könne, sei die Wahrscheinlichkeit noch größer, daß er sich selbst verletze. Aber Conway erklärte, in seiner augenblicklichen Lage — also mit dem Schwanz im Munde und den Bauch nach außen gekehrt — könne sich der Patient nur sehr wenig bewegen. Wenn Conway darüber nachdachte, muß er zugeben, daß diese Lage die ideale Verteidigungsstellung für dieses Wesen war. Es erinnerte ihn daran, wie auf der Erde Katzen beim Kampf auf der Seite zu liegen pflegen, um alle vier Pfoten einsetzen zu können. Und das hier war eine zehnbeinige Katze, die sich nach allen Richtungen gleichzeitig verteidigen konnte. Aber warum sollte das Wesen eigentlich diese Verteidigungsstellung einnehmen, wo es doch gerade in seinem jetzigen Zustand so dringend Hilfe brauchte? Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. Jetzt wußte er die Antwort. Oder, verbesserte er sich vorsichtig, wenigstens neunzig Prozent der Antwort. Ihre Vermutungen über diesen Fall waren von Anfang an alle falsch gewesen. Seine neue Theorie beruhte auf der Tatsache, daß sie von einer weiteren falschen Voraussetzung ausgegangen waren, und zwar einer Voraussetzung grundsätzlicher Art. Unter diesen Umständen ließen sich die Feindseligkeit des Patienten, seine eigenartige Körperhaltung und sein geistiger Zustand erklären. Gleichzeitig ließ sich daraus ein Schluß auf die einzig mögliche Therapie ziehen. Und was das Wichtigste von allem war — Conway durfte jetzt annehmen, daß der Patient vielleicht gar nicht zu einer so feindseligen und bösartigen Rasse gehörte, wie er, Conway, vermutet hatte. Die einzige Schwierigkeit an der neuen Theorie war, daß sie auch falsch sein konnte. Conway schaltete den Translator ein. Er wußte schon, ehe er zu sprechen begann, wie die Reaktion des Patienten sein würde, und so war es wahrscheinlich ein Akt willkürlicher Grausamkeit, die Worte überhaupt auszusprechen, aber er mußte seine Theorie noch einer Prüfung unterziehen, um sich selbst klar zu werden. Er sagte: „Keine Sorge, Junge, du bist bald wieder so wie du warst…“ Die Reaktion war so heftig, daß Dr. Prilicla, dessen empathische Fähigkeiten ihn alles das mitempfinden ließen, was der Patient empfand, die Station verlassen mußte. Und erst jetzt traf Conway seine endgültige Entscheidung. Während der drei darauffolgenden Tage besuchte Conway die Station regelmäßig. Er machte sich sorgfältig Notizen über das Wachstum der dicken, faserigen Kruste, die jetzt zwei Drittel des Körpers des Patienten bedeckte. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß der Wachstumsprozeß sich beschleunigte und die Kruste dicker wurde. Conway schickte Proben in die pathologische Abteilung, die antwortete, daß der Patient anscheinend an einer eigenartigen und besonders bösartigen Form von Hautkrebs litte und gleichzeitig die Frage stellte, ob eine Strahlentherapie oder chirurgische Entfernung möglich sei. Conway erwiderte, beides sei seiner Meinung nach ohne ernste Gefährdung des Patienten nicht möglich. Seit der ersten Untersuchung war Conway Dr. Mannon bewußt aus dem Wege gegangen. Er wollte sich nicht mit seinem alten Freund über den Fall unterhalten, weil Mannon zu klug war, um sich mit irgendwelchen leeren Phrasen abspeisen zu lassen, und die Wahrheit konnte Conway ihm nicht sagen. Als er am fünften Tag der Station seine zweite Morgenvisite abstattete, erwartete ihn Dr. Mannon dort. Er erbat ordnungsgemäß Conways Genehmigung, sich den Patienten ansehen zu dürfen. Aber als diese Formalität erfüllt war, fügte er hinzu: „Jetzt hören Sie mal zu, Sie junger Bursche. Ich hab’s jetzt langsam satt, daß Sie in die Luft starren oder auf Ihre Stiefelspitzen, wenn ich in Ihre Nähe komme — wenn ich nicht die Haut eines Tralthaners hätte, wäre ich beleidigt. Ich weiß natürlich, daß neu ernannte Seniorärzte ihre Pflichten die ersten paar Wochen sehr ernst nehmen, aber wie Sie sich in den letzten Tagen benommen haben, war ja geradezu rüpelhaft.“ Er hob die Hand, ehe Conway etwas sagen konnte, und fuhr fort: „Ja, ist schon gut — jetzt wollen wir zur Sache kommen. Ich habe mit Prilicla und den Leuten in der Pathologischen gesprochen. Sie sagen mir, die Wucherung bedeckt jetzt den ganzen Körper und sei für Röntgenstrahlen von erträglicher Intensität völlig undurchsichtig. Somit kann man über die Lage und das Wirken der inneren Organe des Patienten nur Vermutungen anstellen. Und unter Narkose kann man das Zeug nicht wegschneiden, weil eine Lähmung der Gliedmaßen leicht auch zu einem Schaden am Herz führen könnte. Andererseits ist eine Operation unmöglich, solange diese Glieder herumschlagen. Gleichzeitig wird der Patient immer schwächer, und dieser Zustand verschlimmert sich, solange wir ihm keine Nahrung geben können, und das wiederum geht erst dann, wenn man seinen Mund befreien kann. Und um die Angelegenheit noch weiter zu komplizieren, zeigen Ihre letzten Proben, daß der Ausschlag sich schnell nach innen fortsetzt, und alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Mund und Schwanz permanent zusammenwachsen, wenn die Operation nicht schnell vorgenommen wird. Habe ich die Lage richtig dargestellt?“ Conway nickte. Mannon atmete tief und fuhr dann fort: „Wie wäre es, wenn Sie die Glieder amputieren und den Ausschlag vom Kopf und vom Schwanz entfernen würden und die Oberhaut durch eine geeignete synthetische Substanz ersetzen? Wenn der Patient einmal wieder Nahrung aufnehmen kann, kommt er wahrscheinlich schnell genug zu Kräften, daß man diese Prozedur auch an seinem übrigen Körper durchführen kann. Ich gebe zu, daß das ein recht drastischer Vorschlag ist. Aber unter den vorliegenden Umständen scheint mir das der einzige Weg zu sein, das Leben des Patienten zu retten. Und es besteht immer die Möglichkeit, dem Wesen künstliche Glieder zu geben.“ „Nein!“ sagte Conway heftig. Wenn seine Theorie über den Patienten stimmte, dann würde eine Operation in diesem Stadium katastrophale Folgen haben. Und wenn nicht, wenn also der Patient ein Wesen von der Art war, wie er zu sein schien — bösartig, feindselig und gefährlich — und wenn seine Freunde kamen, um nach ihm zu sehen… Conway sagte mit leiser Stimme: „Stellen Sie sich vor, ein Freund von Ihnen mit einem bösartigen Hautausschlag fiele einem ET-Arzt in die Hände, und dem fiele nichts Besseres ein, als ihm bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen und ihm die Arme und Beine abzuhacken! Sie würden bestimmt wütend sein, wenn Sie ihn fänden. Selbst wenn man dabei berücksichtigt, daß Sie ein zivilisierter Mensch sind, tolerant und bereit, Kompromisse zu schließen — alles Eigenschaften, die wir unserem Patienten nicht a priori zuschreiben können — glaube ich doch, daß Sie ziemlich wütend wären.“ „Diese Analogie stimmt nicht, und das wissen Sie auch genau!“ sagte Mannon hitzig. „Manchmal muß man etwas riskieren. Und hier haben wir solch einen Fall.“ „Nein“, sagte Conway noch einmal. „Dann haben Sie vielleicht einen besseren Vorschlag?“ Conway schwieg einen Augenblick und sagte dann langsam: „Ich habe eine Idee, die ich ausprobieren möchte, aber ich will jetzt noch nicht darüber sprechen. Wenn ich recht habe, erfahren Sie es als erster, und wenn nicht, werden Sie es auch erfahren. Jeder wird es dann erfahren.“ Mannon zuckte die Achseln und wandte sich ab. An der Tür blieb er stehen und sagte: „Sie müssen da ja etwas ziemlich Verrücktes vorhaben, weil Sie gar so geheimnisvoll tun. Aber denken Sie daran, wenn Sie mich einweihten und die Sache schiefgeht, wären zwei Männer verantwortlich!“ So spricht ein wahrer Freund, dachte Conway. Die Versuchung, seine ganze Last auf Mannon abzuladen, war groß. Aber dann schüttelte er bedauernd den Kopf. 34 Als Mannon ihn verlassen hatte, ging Conway zu seinem Patienten zurück. Äußerlich erinnerte er immer noch an einen Napfkuchen, dachte Conway, aber an einen Napfkuchen, der im Laufe der Äonen Runzeln und Falten bekommen hat. Conway stellte fest, daß erst eine Woche verstrichen war, seit er den Patienten übernommen hatte. Die fünf Paar Gliedmaßen, die alle bereits Spuren des Ausschlages zeigten, standen starr und in seltsamen Winkeln vom Körper ab, gleichsam wie versteinerte Zweige an einem alten Baum. Conway hatte schon frühzeitig damit gerechnet, daß der Ausschlag die Atemöffnungen überwuchern würde und hatte deshalb Röhren eingeführt. Diese Röhren hatten die gewünschte Wirkung, aber die Atmung war trotzdem langsamer geworden. Das Stethoskop verriet, daß der Herzschlag schwächer, dafür aber schneller geworden war. Conway war sich unschlüssig. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Wenn es nur ein gewöhnlicher Patient wäre, dachte er ärgerlich; ein Patient, den man behandeln und über dessen Therapie man offen diskutieren konnte. Aber hier lag eine Komplikation vor. Der Patient war Angehöriger einer weit fortgeschrittenen und möglicherweise feindselig gesinnten Rasse, und er, Conway, konnte sich niemandem anvertrauen, wollte er vermeiden, daß man ihm den Fall wegnahm, ehe er seine Theorie beweisen konnte. Kursedd beobachtete ihn aufmerksam, als er die Station verließ, und Conway überlegte, ob er seinem Helfer einschärfen sollte, nichts von dem zu erzählen, was er sah. Aber das hatte keinen Sinn; das hätte den Klatsch nur noch schlimmer gemacht. Das Pflegepersonal sprach ohnehin schon über ihn, und ihm war aufgefallen, wie einige der älteren Schwestern schon begannen, ihn recht kühl zu behandeln. Aber wenn er Glück hatte, würden seine Vorgesetzten erst in einigen Tagen erfahren, was er hier tat. Drei Stunden später befand er sich mit Dr. Prilicla wieder in 310 B. Er überprüfte Herzschlag und Atmung, während der GNLO nach geistiger Ausstrahlung suchte. „Sehr schwach“, meldete Prilicla langsam. „Da ist zwar noch Leben, aber so schwach, daß es sich seiner selbst nicht bewußt ist. In Anbetracht der praktisch nicht mehr existierenden Atmung und des schwachen Pulsschlags…“ Der Gedanke an den Tod war für einen Empathen besonders niederdrückend, und das empfindliche kleine Wesen brachte es einfach nicht über sich, den Satz zu Ende zu sprechen. „Dann hat all der Schrecken, den wir ihm eingejagt haben, um ihn zu beruhigen, nichts geholfen“, sagte Conway halb im Selbstgespräch. „Er hatte nicht essen können, und wir haben ihn dazu veranlaßt, Energiereserven zu verbrauchen, die er dringend selbst benötigte.“ „Aber warum? Wir haben dem Patienten doch geholfen.“ „Natürlich“, sagte Conway mit beißend sarkastischer Stimme, obwohl er wußte, daß der Translator seines Mitarbeiters den Sarkasmus nicht übertragen würde. Er wollte gerade die Untersuchung fortsetzen, als es eine plötzliche Unterbrechung gab. Das Wesen, dessen mächtige Gestalt an beiden Seiten der Tür anstieß, war ein Tralthaner, physiologische Klassifikation FGLI. Für Conway waren die Bewohner des Planeten Traltha ebenso schwer zu unterscheiden wie Schafe, aber den hier kannte er. Das war kein Geringerer als Thornnastor, der leitende Diagnostiker der pathologischen Abteilung. Der Diagnostiker richtete zwei seiner Augen auf Prilicla und verlangte dröhnend: „Gehen Sie hinaus, bitte. Sie auch, Pfleger.“ Dann richtete er alle vier Augen auf Conway. „Ich spreche zu Ihnen allein“, sagte Thornnastor, als die beiden gegangen waren. „Einige meiner Bemerkungen beziehen sich nämlich auf Ihr professionelles Verhalten in diesem Fall, und ich möchte Sie nicht öffentlich tadeln. Aber zunächst will ich Ihnen die gute Nachricht bringen, daß wir ein Mittel gegen dieses Geschwür entwickelt haben. Es verhindert nicht nur die weitere Ausbreitung, sondern weicht auch die bereits betroffenen Hautstellen auf und stellt das Gewebe und die Blutgefäße darunter wieder her.“ Verdammt! dachte Conway. Laut sagte er: „Eine hervorragende Leistung.“ Und das war es auch. „Das wäre nicht möglich gewesen, wenn wir nicht einen Arzt zu dem Wrack geschickt hätten, mit der Anweisung, uns alles zu schicken, was vielleicht Rückschlüsse auf den Metabolismus des Patienten erlaubte“, fuhr der Diagnostiker fort. „Offenbar haben Sie diese Informationsquelle völlig übersehen, Doktor, denn die einzigen Proben, die Sie lieferten, waren jene, die Sie von dem Wrack mitbrachten. Das war ein grobes Versäumnis, Doktor, und es ist nur Ihren bisherigen guten Leistungen zuzuschreiben, daß Sie nicht degradiert worden sind und daß man Ihnen den Fall nicht entzogen hat. Unser Erfolg geht in erster Linie darauf zurück, daß wir einen anscheinend sehr gut ausgestatteten Medizinkasten gefunden haben“, fuhr Thornnastor fort. „Eine Untersuchung des Inhalts, verbunden mit anderen Informationen über das Wrack, führte uns zu dem Schluß, daß es sich um eine Art Ambulanzschiff gehandelt haben muß. Die Offiziere vom Monitor-Korps waren sehr erregt, als wir ihnen dies sagten…“ „Wann?“ fragte Conway scharf. Ihm war es eisig über den Rücken gelaufen. Aber vielleicht hatte er noch eine Chance, Skempton daran zu hindern, Verbindung herzustellen. „Wann haben Sie ihnen gesagt, daß es ein Ambulanzschiff sei?“ „Für Sie kann das nur von zweitrangigem Interesse sein“, sagte Thornnastor und holte eine große Flasche aus seinem Ranzen. „Sie sollten sich in erster Linie um den Patienten kümmern. Sie werden eine Menge von dem Zeug hier brauchen, und wir stellen es so schnell wie möglich synthetisch her, aber das hier reicht jedenfalls aus, um die Kopf- und Mundregion freizulegen. Injizieren Sie den Stoff nach der Anweisung. Es dauert etwa eine Stunde, bis sich eine Wirkung einstellt.“ Conway hob die Flasche vorsichtig hoch. Er versuchte, Zeit zu gewinnen. So fragte er: „Was ist mit den Auswirkungen auf lange Sicht? Ich möchte nichts riskieren…“ „Doktor“, unterbrach Thornnastor, „mir scheint, Sie übertreiben hier die Vorsicht auf geradezu sträfliche Weise.“ Die Stimme des Diagnostikers klang in Conways Translator völlig ausdruckslos, aber er brauchte kein Empath zu sein, um zu wissen, daß der andere äußerst ärgerlich war. Die Art und Weise, wie Thornnastor zur Tür hinausstürmte, zeigte das noch deutlicher. Conway fluchte. Die Monitore waren im Begriff, mit der fremden Kolonie Kontakt aufzunehmen, wenn sie es nicht schon getan hatten, und bald würden die Fremden im ganzen Hospital herumschwirren, um zu erfahren, was er, Conway, für den Patienten tat. Wenn das Wesen also nicht auf dem Wege der Besserung war, bis sie eintrafen, würde es Schwierigkeiten geben, ganz gleich, was für Leute es auch sein mochten. Und noch viel früher würde es Schwierigkeiten interner Art geben, denn er hatte Thornnastor überhaupt nicht von seinen beruflichen Fähigkeiten überzeugen können. In der Hand hielt er die Flasche, deren Inhalt bald alles das tun würde, was der Chefpathologe behauptete — kurz, den Zustand beseitigen, der den Patienten zu belästigen schien. Conway überlegte noch einen Augenblick und blieb dann bei der Entscheidung, die er vor etwa sieben Tagen gefällt hatte. Er konnte die Flasche verstecken, ehe Prilicla zurückkam. „Hören Sie gut zu“, sagte Conway gereizt, „ehe Sie ein Wort sagen. Ich wünsche keine Debatten hinsichtlich der Bearbeitung dieses Falles, Doktor. Ich glaube zu wissen, was ich tue, aber wenn ich mich geirrt haben sollte und Sie davon wissen, würde Ihr berufliches Renommee darunter leiden. Verstehen Sie?“ Priliclas sechs Spinnenbeine zitterten. Conway wußte, daß seine geistige Ausstrahlung im Augenblick nicht gerade angenehm war. „Ich verstehe“, sagte Prilicla. „Sehr gut“, nickte Conway. „Jetzt gehen wir wieder an die Arbeit. Ich möchte, daß Sie mit mir den Puls und die Atmung sowie die geistige Ausstrahlung überprüfen. Es sollte bald zu einer Veränderung kommen, und ich möchte diesen Wechsel nicht versäumen.“ Einmal ließ er das Wesen mit Prilicla und Kursedd allein und versuchte, Oberst Skempton zu erreichen. Aber man sagte ihm, der Oberst hätte das Hospital in aller Eile vor drei Tagen verlassen. Er hätte zwar die Raumkoordinaten seines Bestimmungsorts angegeben, es sei aber unmöglich, mit dem Schiff über die interstellaren Entfernungen hinweg Verbindung aufzunehmen, solange es sich im Flug befand. Es war also zu spät, das Korps daran zu hindern, mit den Fremden Verbindung aufzunehmen. Blieb ihm also nur die eine Möglichkeit, den Patienten zu „kurieren“. Wenn man es ihm erlaubte… Der Interkom an der Wand knackte und sagte: „Dr. Conway, bitte sofort in Major O’Maras Büro.“ Er dachte gerade, daß Thornnastor sich mit seiner Beschwerde beeilt hatte, als Prilicla sagte: „Atmung beinahe nicht vorhanden. Herzschlag unregelmäßig.“ Conway riß das Mikrofon aus dem Halter und schrie: „Hier Conway. Sagen Sie O’Mara, ich sei beschäftigt!“ Dann zu Prilicla gewandt: „Ich hab’s auch bemerkt. Und wie steht’s mit seiner geistigen Ausstrahlung?“ „Während der Pulsschwankung stärker, aber jetzt sind beide wieder normal. Die Atmung wird immer noch schwächer.“ „Gut. Halten Sie die Ohren offen.“ Conway nahm eine Probe der ausgeatmeten Luft und stellte damit eine Analyse an. Selbst wenn man bedachte, wie schwach die Atmung des Fremden ging, ließ doch dieses Ergebnis, ebensowenig wie die anderen Proben, die er in den letzten zwölf Stunden genommen hatte, keinen Zweifel offen. Er begann sich jetzt etwas sicherer zu fühlen. „Atmung beinahe Null“, sagte Prilicla. Ehe Conway antworten konnte, stürmte O’Mara durch die Tür herein. Höchstens sechs Zoll von Conway entfernt, blieb er stehen und sagte mit gefährlich leiser Stimme: „Womit sind Sie denn so beschäftigt, Doktor?“ Conway tanzte vor Ungeduld beinahe herum. „Hat das nicht einen Augenblick Zeit?“ fragte er bittend. „Nein.“ Er würde den Psychologen nicht loswerden, ohne eine Erklärung abzugeben, das wußte Conway. Und er mußte die nächste Stunde ohne Störung arbeiten können! Er trat schnell an die Seite des Patienten und gab O’Mara über die Schulter hinweg eine kurze Zusammenfassung seiner Vermutungen hinsichtlich des fremden Ambulanzschiffes und der Kolonie, von der es kam. Abschließend bat er den Psychologen inständig, Skempton anzurufen und ihn zu bitten, die erste Kontaktaufnahme mit den Fremden aufzuschieben, bis Genaueres über den Zustand des Patienten bekannt war. „Dann haben Sie das alles schon seit einer Woche gewußt und uns nichts davon gesagt“, meinte O’Mara nachdenklich, „und ich verstehe, warum Sie es taten. Aber das Korps hat schon oft Kontakt mit fremden Rassen aufgenommen und jedesmal mit Erfolg. Wir haben Leute, die eigens für diese Dinge ausgebildet sind, und Sie haben sich wie ein Vogel Strauß verhalten — nämlich gar nichts getan und gehofft, daß das Problem an uns vorbeigehen würde. Aber dieses Problem betrifft eine Kultur, die weit genug fortgeschritten ist, um den intergalaktischen Raum zu durchqueren — ein solches Problem ist zu groß, als daß man sich einfach vor ihm verstecken könnte. Es muß schnell und positiv gelöst werden. Ideal wäre natürlich, wenn wir den Beweis unseres guten Willens dadurch anträten, daß wir den Überlebenden gesund vorwiesen…“ O’Maras Tonfall änderte sich plötzlich. Er stand ganz dicht hinter Conway, und der Arzt spürte seinen heißen Atem im Nacken. „… Und das bringt uns wieder zu dem Patienten hier, dem Wesen, das Sie behandeln sollen. Sehen Sie mich an, Conway!“ Conway wandte sich um, aber erst, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Prilicla den Patienten nicht aus dem Auge ließ. Er stellte sich in Gedanken wütend die Frage, warum ausgerechnet alles gleichzeitig passieren mußte, anstatt sich ruhig und hintereinander zu entwickeln. „Bei der ersten Untersuchung“, fuhr O’Mara ruhig fort, „rannten Sie in Ihr Zimmer, ehe wir uns schlüssig werden konnten. Ich dachte, Sie hätten Panik bekommen, sagte aber damals nichts. Später schlug Dr. Mannon eine Behandlung vor, die zwar drastisch war, aber beim Zustand des Patienten durchaus angezeigt schien. Sie lehnten sie ab. Dann entwickelte die pathologische Abteilung ein Mittel, das den Patienten binnen Stunden geheilt hätte, und Sie weigerten sich sogar, das anzuwenden! Normalerweise gebe ich nichts auf Gerüchte“, fuhr O’Mara fort, und seine Stimme hob sich wieder, „aber wenn sie schon vom Pflegepersonal verbreitet werden, das gewöhnlich sehr genau weiß, wovon es redet, und wenn das Gerede gar nicht mehr aufhören will, dann muß ich es zur Kenntnis nehmen. Es steht fest, daß Sie trotz der dauernden Überwachung des Patienten, die Sie für nötig halten, und trotz der zahlreichen Untersuchungen und Proben, die Sie in die Pathologische geschickt haben, absolut nichts für das Wesen getan haben. Sie haben so getan als behandelten Sie es, und dabei ist es langsam, aber sicher gestorben. Sie hatten solche Angst vor den Folgen eines Versagens, daß Sie nicht imstande waren, auch nur die einfachste Entscheidung zu treffen…“ „Und was, zum Teufel“, fragte Conway wütend, „glauben Sie dann, daß ich tue?“ „Nichts!“ schrie O’Mara. „Absolut nichts!“ „Das stimmt!“ schrie Conway zurück. „Atmung hat aufgehört“, sagte Prilicla leise. Conway wirbelte herum und drückte auf den Rufknopf für Kursedd. Dann sagte er: „Herztätigkeit? Geist?“ „Puls schneller. Emotionelle Ausstrahlung etwas stärker.“ Jetzt trat Kursedd ein, und Conway rasselte einige Anweisungen herunter. Er brauchte Instrumente aus dem unmittelbar angrenzenden DBLF-Operationssaal. Aseptische Behandlung war unnötig, ebenso wie Anästhesie — er brauchte nur eine genügend große Anzahl Schneidinstrumente. Sein Assistent verschwand, und Conway rief die pathologische Abteilung an und erkundigte sich nach einem geeigneten Blutstillmittel für den Fall, daß ein größerer chirurgischer Eingriff nötig sein sollte. Man versprach, ihm das Mittel in ein paar Minuten zu schicken. Als er sich vom Interkom abwandte, sagte O’Mara: „All diese fieberhafte Tätigkeit, diese Spiegelfechterei beweist überhaupt nichts. Der Patient hat zu atmen aufgehört. Wenn er noch nicht tot ist, ist er es beinahe, und Sie tragen die Schuld. Der Himmel stehe Ihnen bei, Doktor.“ Conway schüttelte abwesend den Kopf. „Unglücklicherweise können Sie durchaus recht haben, aber ich hoffe, daß er nicht sterben wird“, sagte er. „Ich kann das jetzt nicht erklären, aber Sie könnten mir helfen, indem Sie Skempton anrufen und ihm sagen, er soll diese fremde Kolonie in Frieden lassen. Ich brauche Zeit, wieviel, weiß ich noch nicht.“ „Sie geben auch nie auf“, sagte O’Mara ärgerlich, trat aber trotzdem ans Interkom. „Denken Sie doch einmal darüber nach…“, sagte Conway über die Schulter zu O’Mara. „Die Luft der letzten zwölf Stunden, die der Patient ausgeatmet hat, ist frei von Unreinheiten gewesen. Der Patient hat also geatmet, aber die Luft nicht verbraucht…“ Er beugte sich vor und lauschte an seinem Stethoskop. Der Herzschlag ging jetzt etwas schneller, dachte er, und auch stärker, aber da war eine beunruhigende Unregelmäßigkeit. Aber Conway wußte nicht, ob das Herz allein für das Geräusch verantwortlich war oder ob auch andere organische Bewegungen dazu beitrugen. Es beunruhigte ihn, weil er nicht wußte, was für einen Patienten wie diesen normal war. Der Fremde hatte sich schließlich in einem Ambulanzschiff befunden. Er konnte also außer seinem augenblicklichen Zustand auch noch ein anderes Gebrechen gehabt haben. „Was reden Sie da?“ unterbrach ihn O’Mara und machte Conway damit bewußt, daß er laut gedacht hatte. „Wollen Sie sagen, daß der Patient nicht krank ist…?“ „Eine Wöchnerin kann auch Schmerzen haben, ohne im strengen Sinn krank zu sein“, sagte Conway geistesabwesend. Er wünschte, mehr von dem zu wissen, was jetzt in seinem Patienten vor sich ging. Wären die Ohren des Wesens nicht völlig von der Wucherung bedeckt gewesen, hätte er versucht, den Translator zu benützen. Diese saugenden, stoßenden, gurgelnden Geräusche konnten alles und nichts bedeuten. „Conway…!“ begann O’Mara und atmete so tief, daß man es in der ganzen Station hören mußte. Dann fuhr er mit leiser Stimme fort: „Ich bin in Verbindung mit Skemptons Schiff. Offenbar sind sie schnell vorwärtsgekommen und haben bereits Verbindung mit den Fremden aufgenommen. Sie holen jetzt den Oberst…“ Er unterbrach sich und fügte dann hinzu: „Ich drehe etwas lauter, damit Sie hören, was er sagt.“ „Nicht zu laut“, sagte Conway, und dann zu Prilicla gewandt: „Wie ist die geistige Ausstrahlung?“ „Viel stärker. Ich spüre jetzt wieder verschiedene Emotionen. Gefühle des Drangs, der Angst und der Sorge — wahrscheinlich Klaustrophobie.“ Conway musterte den Patienten lange und sorgfältig. Keine Bewegung war zu sehen. Dann sagte er plötzlich: „Ich kann nicht länger warten. Er muß zu schwach sein, um sich selbst zu helfen. Eine Wand, Schwester.“ Diese Wand sollte lediglich O’Mara ausschließen. Hätte der Psychologe gesehen, was nun kam, ohne genau zu wissen, was vor sich ging, hätte er zweifellos falsche Schlüsse gezogen und vielleicht sogar Conway gewaltsam an seinem weiteren Vorgehen gehindert. „Er wird immer unruhiger“, sagte Prilicla plötzlich. „Er hat nicht gerade Schmerzen, aber es handelt sich um ein Gefühl der Beengung.“ Conway nickte. Er winkte nach einem Skalpell und begann in das Geschwür zu schneiden, wobei er versuchte, seine Tiefe festzustellen. Jetzt war es wie weicher, zerbröckelnder Kork und bot dem Messer kaum Widerstand. In einer Tiefe von fast zwanzig Zentimeter legte er eine graue, ölige und schwach irisierende Membrane frei, aber Blut floß keines. Conway atmete erleichtert auf, zog das Skalpell zurück und wiederholte den Schnitt an einer anderen Stelle. Diesmal hatte die Membrane einen grünlichen Schein und zuckte leicht. Offenbar betrug die durchschnittliche Tiefe der Wucherung knapp zwanzig Zentimeter. In fieberhafter Eile öffnete Conway das Gewächs an insgesamt acht Stellen, die in etwa gleichmäßigem Abstand über den ganzen ringförmigen Körper verteilt waren. Dann sah er Prilicla fragend an. „Viel schlimmer jetzt“, sagte der GNLO. „Äußerste geistige Bedrängnis. Furcht, Gefühle des Erstickens. Puls nimmt zu. Unregelmäßig — das Herz ist ziemlich belastet. Jetzt verliert er wieder das Bewußtsein…“ Ehe der Empath zu Ende gesprochen hatte, fing Conway zu hacken an. Mit langen, wütenden Schlägen verband er die Öffnung, die er bereits geschaffen hatte, mit tiefen, zackigen Schnitten. Geschwindigkeit ging jetzt über alles. Chirurgie konnte man das, was er tat, bei aller Phantasie nicht nennen, denn ein Holzfäller mit einer stumpfen Axt hätte wohl sauberere Arbeit geleistet. Als er fertig war, sah er den Patienten drei lange Sekunden an, aber da war immer noch keine Spur einer Bewegung. Conway ließ das Skalpell fallen und zerrte mit den Händen an dem Gewächs. Plötzlich erfüllte Skemptons Stimme die Station. Er beschrieb mit erregten Worten seine Landung auf der fremden Kolonie und wie die Verbindung mit den Fremden zustandegekommen war. Dann fuhr er fort: „… und, O’Mara, das soziologische System hier ist unglaublich. Ich habe noch nie so etwas gehört. Es gibt hier zwei verschiedene Lebensformen…“ „… die aber der gleichen Spezies angehören“, warf Conway mit lauter Stimme ein, ohne dabei die Arbeit einzustellen. Der Patient zeigte jetzt deutliche Anzeichen des Lebens und begann sich selbst zu helfen. Am liebsten hätte Conway vor Freude laut aufgeschrien, fuhr aber stattdessen in seiner Rede fort: „Eine Form ist der zehnbeinige Typ, wie unser Freund hier, aber er hält natürlich den Schwanz nicht im Mund. Das ist nur eine Übergangsstellung. Die andere Form ist… ist…“ Conway hielt inne, um das Wesen, das jetzt vor ihm lag, zu mustern. Die Überreste des Geschwürs, die den Patienten bedeckt hatten, lagen auf dem Boden herum, teils von Conway hinuntergeworfen, teils vom Wesen selbst abgeschüttelt. Er fuhr fort: „… Sauerstoffatmer natürlich, eierlegend. Langer, stabartiger, aber flexibler Körper mit vier insektenartigen Beinen, Greifwerkzeugen, üblichen Sinnesorganen und drei Flügelpaaren. Klassifikation GKNM. Sieht etwa wie eine große Fliege aus. Ich würde sagen, daß die erste Form, ihren grob entwickelten Gliedmaßen nach zu schließen, den größten Teil der schweren Arbeit getan hat. Erst, nachdem sie das Larven-Stadium hinter sich gebracht und die schönere Fliegengestalt angenommen hat, betrachtet man sie als reif und für verantwortliche Arbeit fähig. Ich kann mir gut vorstellen, daß sich dabei eine komplizierte Gesellschaft entwickelt…“ „Ich wollte gerade sagen“, rief Oberst Skempton, und man merkte seiner Stimme den Ärger darüber an, daß ihm jemand den Applaus gestohlen hatte, „daß ein paar von diesen Wesen unterwegs sind, um sich um unseren Patienten zu kümmern. Sie bitten darum, daß wir nichts unternehmen…“ An diesem Punkt schob O’Mara den Wandschirm beiseite. Er starrte den Patienten an, der jetzt damit beschäftigt war, seine Flügel auszuschütteln, und riß sich dann zusammen. „Ich glaube, ich muß mich jetzt entschuldigen, Doktor. Aber warum haben Sie es niemand gesagt…?“ „Ich hatte keinen Beweis, daß meine Theorie stimmte“, sagte Conway ernsthaft. „Als mein Patient ein paarmal in Panik geriet, als ich ihm helfen wollte, argwöhnte ich, daß der Ausschlag normal war. Und dann gab es noch andere Hinweise. Die Tatsache, daß er keine Nahrung aufnahm, die ringartige Stellung mit den Gliedmaßen nach außen gerichtet — offenbar eine Verteidigungsstellung und schließlich die Tatsache, daß die ausgeatmete Luft in den späteren Stadien keine Unreinheiten zeigte und somit den Beweis erbrachte, daß die Lunge und das Herz, die wir unter Bobachtung hielten, überhaupt keine direkte Verbindung mehr besaßen.“ Conway fuhr in seiner Erklärung fort und sagte, er sei sich am Anfang seiner Behandlung seiner Theorie nicht sicher gewesen, andererseits aber auch nicht unsicher genug, um Mannon oder Thornnastor gewähren zu lassen. Er hatte die Entscheidung getroffen, daß der Zustand des Patienten normal oder wenigstens einigermaßen normal war, und daß das beste Vorgehen das sei, überhaupt nichts zu tun. Das hatte er getan. „… Aber das hier ist ein Hospital, das für seine Patienten alles tun will“, fuhr Conway fort, „und ich kann mir nicht vorstellen, daß Dr. Mannon, Sie oder einer der anderen Ärzte einfach zugesehen und nichts getan hätte, während dieser Patient ihnen offensichtlich unter den Händen gestorben wäre. Vielleicht hätte jemand meine Theorie akzeptiert und sich bereit erklärt, danach zu handeln, aber sicher konnte ich dessen nicht sein. Und wir mußten diesen Patienten kurieren, weil seine Freunde zu diesem Zeitpunkt noch ein recht unbekannter Faktor waren…“ „Natürlich, natürlich“, unterbrach ihn O’Mara und hob die Hände. „Sie sind ein Genie, Doktor, oder so etwas Ähnliches, aber was nun?“ Conway rieb sich das Kinn und sagte dann nachdenklich: „Wir dürfen nicht vergessen, daß der Patient sich in einem Ambulanzschiff befand. Also muß irgend etwas an ihm nicht in Ordnung gewesen sein — ich meine, abgesehen von seinem Zustand. Er war zu schwach, seine eigene Larve zu durchbrechen und brauchte Hilfe. Vielleicht war diese Schwäche sein ganzes Gebrechen. Aber wenn es noch etwas anderes war, dann werden Thornnastor und seine Leute ihn kurieren können, jetzt, da wir ja mit ihm sprechen und daher seine Mithilfe bekommen können.“ „Es sei denn“, sagte er plötzlich besorgt, „unsere vorhergehenden Versuche, den Fremden zu beruhigen, hätten zu dauerndem geistigen Schaden geführt.“ Er schaltete den Translator ein, kaute auf der Unterlippe herum und sagte dann zu dem Patienten: „Wie fühlen Sie sich?“ Die Antwort war kurz und prägnant, aber sie war genau das, was ein besorgter Arzt von seinem Patienten hören möchte. „Ich habe Hunger“, sagte der Patient.